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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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in der Doppeldeutigkeit der Harmlosigkeit liegt. Immer aber pse_398.002
ist deutlich: die Gedichte packen ein Stück Wirklichkeit aus pse_398.003
der Haltung geistreichen Darüberstehens, zumeist aus Spott. pse_398.004
Auch hier also Gestaltung aus einer innersten Haltung, die pse_398.005
nicht in den rationalen Bewußtseinsschichten auflösbar ist.

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Wir wollen die Frage der Gemüthaftigkeit nun an Merkmalen pse_398.007
der modernen Lyrik prüfen. Drei Züge drängen sich pse_398.008
auf: eisige Intellektualität ist der erste, besonders wenn mit pse_398.009
scharfem Verstand Stück für Stück sprachlicher Konstruktionen pse_398.010
aufmontiert wird. Das zweite sind die starken dissonanten pse_398.011
Spannungen: Neben Intellektualität Durchbruch pse_398.012
archaisch-mythischer Züge, neben Schlichtheit Absurdität, pse_398.013
Spannungen zwischen den Themen, zwischen dem Thema pse_398.014
und seiner sprachlichen Formung; man liebt Abnormität, pse_398.015
Überraschung, Befremdung. Der dritte Zug ist Enthumanisierung: pse_398.016
seit Mallarme wollen viele Dichter bewußt alles pse_398.017
Menschliche ausschließen. Ein Beispiel ist ein Gedicht des pse_398.018
Spaniers F. Garcia Lorca (übersetzt von H. Friedrich):

pse_398.019
[Beginn Spaltensatz]

Die Elipse eines Schreis

pse_398.020

Geht von Berg

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Zu Berg.

[Spaltenumbruch] pse_398.101

Von den Oliven her

pse_398.102

Wird er zum schwarzen Regenbogen

pse_398.103

Über der blauen Nacht.

[Ende Spaltensatz] pse_398.104

Der allgemeine Zug, der sich aus all diesen Merkmalen zu pse_398.105
ergeben scheint: Es gibt in solcher Lyrik keine Seele.

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Zunächst muß bemerkt werden, daß nicht das gesamte pse_398.107
lyrische Schaffen der Gegenwart unter diese Merkmale gestellt pse_398.108
werden kann. Sogar die Auswahl, die H. Friedrich in pse_398.109
seinem Buch über die Struktur der modernen Lyrik bringt, pse_398.110
böte Ausnahmen. Es besteht also von vornherein die Gefahr, pse_398.111
ein einseitiges Bild zu geben, wenn man nur diese Züge heraushebt. pse_398.112
Größer wird die Gefahr, wenn man diese Züge als pse_398.113
Wertmaßstab ganz allgemein nähme und alles abwertete, was pse_398.114
nicht diese Züge trägt. Aber nehmen wir an, dies seien tatsächlich pse_398.115
die Eigenarten aller modernen Lyrik. Es fällt zunächst pse_398.116
auf, wie der Begriff des "Gemütes" eingeengt wird. Nur dadurch pse_398.117
ist es möglich, zu sagen, daß in der modernen Lyrik das pse_398.118
Gemüt fehle. Die entscheidende Frage ist immer: ist in solchen pse_398.119
Gedichten ein innerstes Menschliches noch da? Friedrich sagt:

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in der Doppeldeutigkeit der Harmlosigkeit liegt. Immer aber pse_398.002
ist deutlich: die Gedichte packen ein Stück Wirklichkeit aus pse_398.003
der Haltung geistreichen Darüberstehens, zumeist aus Spott. pse_398.004
Auch hier also Gestaltung aus einer innersten Haltung, die pse_398.005
nicht in den rationalen Bewußtseinsschichten auflösbar ist.

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Wir wollen die Frage der Gemüthaftigkeit nun an Merkmalen pse_398.007
der modernen Lyrik prüfen. Drei Züge drängen sich pse_398.008
auf: eisige Intellektualität ist der erste, besonders wenn mit pse_398.009
scharfem Verstand Stück für Stück sprachlicher Konstruktionen pse_398.010
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und seiner sprachlichen Formung; man liebt Abnormität, pse_398.015
Überraschung, Befremdung. Der dritte Zug ist Enthumanisierung: pse_398.016
seit Mallarmé wollen viele Dichter bewußt alles pse_398.017
Menschliche ausschließen. Ein Beispiel ist ein Gedicht des pse_398.018
Spaniers F. Garcia Lorca (übersetzt von H. Friedrich):

pse_398.019
[Beginn Spaltensatz]

Die Elipse eines Schreis

pse_398.020

Geht von Berg

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Zu Berg.

[Spaltenumbruch] pse_398.101

Von den Oliven her

pse_398.102

Wird er zum schwarzen Regenbogen

pse_398.103

Über der blauen Nacht.

[Ende Spaltensatz] pse_398.104

Der allgemeine Zug, der sich aus all diesen Merkmalen zu pse_398.105
ergeben scheint: Es gibt in solcher Lyrik keine Seele.

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Zunächst muß bemerkt werden, daß nicht das gesamte pse_398.107
lyrische Schaffen der Gegenwart unter diese Merkmale gestellt pse_398.108
werden kann. Sogar die Auswahl, die H. Friedrich in pse_398.109
seinem Buch über die Struktur der modernen Lyrik bringt, pse_398.110
böte Ausnahmen. Es besteht also von vornherein die Gefahr, pse_398.111
ein einseitiges Bild zu geben, wenn man nur diese Züge heraushebt. pse_398.112
Größer wird die Gefahr, wenn man diese Züge als pse_398.113
Wertmaßstab ganz allgemein nähme und alles abwertete, was pse_398.114
nicht diese Züge trägt. Aber nehmen wir an, dies seien tatsächlich pse_398.115
die Eigenarten aller modernen Lyrik. Es fällt zunächst pse_398.116
auf, wie der Begriff des »Gemütes« eingeengt wird. Nur dadurch pse_398.117
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/414>, abgerufen am 20.05.2024.