Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_399.001
"Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber pse_399.002
der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes pse_399.003
als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der pse_399.004
reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte pse_399.005
zerlegbar ist. >Gemüt? Gemüt habe ich keines<, sagt der große pse_399.006
Zauberer Benn von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten pse_399.007
sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt pse_399.008
sie mit harten, dissonantischen Worten." Da ist deutlich, pse_399.009
daß "Gemüt" im engen Sinn des Weichen, Behaglichen, pse_399.010
Sentimentalen genommen wird. Wollte man sich auf "Innerstes pse_399.011
des Menschen" einigen, ich glaube, die Meinungsverschiedenheiten pse_399.012
würden stark eingeschränkt. Denn wenn ein pse_399.013
Dichter dort, wo Weichheiten sich einstellen wollen, solche pse_399.014
mit harten, dissonantischen Worten zerreißt, so offenbart sich pse_399.015
darin erstens sehr deutlich ein lyrisches Ich, dann auch eine pse_399.016
innerste Haltung, aus der dieses Zerreißen herausstößt. Und pse_399.017
wenn Gesamthaltungen sich nicht mehr in einzelne Gefühlstöne pse_399.018
zerlegen lassen, so heißt das doch nicht, daß diese Gesamthaltung pse_399.019
nichts mit dem Innersten zu tun hat.

pse_399.020
So ist auch die eisige Intellektualität eine innerste menschliche pse_399.021
Haltung, etwas, wo sich der Kern, das Wesen, also das pse_399.022
Tiefste eines Menschen, offenbart. Gewiß eine ganz andere Haltung pse_399.023
als die, aus der romantischen Lyrik gespeist ist oder gar pse_399.024
sentimentale Schmachtverse, aber eben doch Gestaltung aus pse_399.025
dem Innersten. Auch die dissonanten Spannungen in modernen pse_399.026
Gedichten sprechen aus einem menschlichen Inneren, aus pse_399.027
der Not und Zerrissenheit, in die unsere Menschheit hineingestoßen pse_399.028
worden ist. Schreie solcher Art kommen aus dem pse_399.029
Tiefsten der Menschen, sie zeigen auch das Ergriffenwerden pse_399.030
von der Wirklichkeit, die auf sie eindrängt. Valery sagt: ein pse_399.031
Gedicht solle ein Fest des Intellekts sein, Breton dagegen, ein pse_399.032
Gedicht solle der Zusammenbruch des Intellekts sein. Valery pse_399.033
betont also das Rationale, Breton den Durchbruch archaischer pse_399.034
Kräfte durch die Schichten des Rationalen. Das ist eine pse_399.035
große Spannweite. Aber: was heißt denn "Fest" anderes, als pse_399.036
das innerste Ergriffensein von dem Glanz des Intellekts? Da pse_399.037
bricht ein Jubel aus über die Leistungen des Intellekts, der pse_399.038
Intellekt feiert seine Möglichkeiten, und der Mensch erlebt

pse_399.001
»Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber pse_399.002
der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes pse_399.003
als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der pse_399.004
reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte pse_399.005
zerlegbar ist. ›Gemüt? Gemüt habe ich keines‹, sagt der große pse_399.006
Zauberer Benn von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten pse_399.007
sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt pse_399.008
sie mit harten, dissonantischen Worten.« Da ist deutlich, pse_399.009
daß »Gemüt« im engen Sinn des Weichen, Behaglichen, pse_399.010
Sentimentalen genommen wird. Wollte man sich auf »Innerstes pse_399.011
des Menschen« einigen, ich glaube, die Meinungsverschiedenheiten pse_399.012
würden stark eingeschränkt. Denn wenn ein pse_399.013
Dichter dort, wo Weichheiten sich einstellen wollen, solche pse_399.014
mit harten, dissonantischen Worten zerreißt, so offenbart sich pse_399.015
darin erstens sehr deutlich ein lyrisches Ich, dann auch eine pse_399.016
innerste Haltung, aus der dieses Zerreißen herausstößt. Und pse_399.017
wenn Gesamthaltungen sich nicht mehr in einzelne Gefühlstöne pse_399.018
zerlegen lassen, so heißt das doch nicht, daß diese Gesamthaltung pse_399.019
nichts mit dem Innersten zu tun hat.

pse_399.020
So ist auch die eisige Intellektualität eine innerste menschliche pse_399.021
Haltung, etwas, wo sich der Kern, das Wesen, also das pse_399.022
Tiefste eines Menschen, offenbart. Gewiß eine ganz andere Haltung pse_399.023
als die, aus der romantischen Lyrik gespeist ist oder gar pse_399.024
sentimentale Schmachtverse, aber eben doch Gestaltung aus pse_399.025
dem Innersten. Auch die dissonanten Spannungen in modernen pse_399.026
Gedichten sprechen aus einem menschlichen Inneren, aus pse_399.027
der Not und Zerrissenheit, in die unsere Menschheit hineingestoßen pse_399.028
worden ist. Schreie solcher Art kommen aus dem pse_399.029
Tiefsten der Menschen, sie zeigen auch das Ergriffenwerden pse_399.030
von der Wirklichkeit, die auf sie eindrängt. Valéry sagt: ein pse_399.031
Gedicht solle ein Fest des Intellekts sein, Breton dagegen, ein pse_399.032
Gedicht solle der Zusammenbruch des Intellekts sein. Valéry pse_399.033
betont also das Rationale, Breton den Durchbruch archaischer pse_399.034
Kräfte durch die Schichten des Rationalen. Das ist eine pse_399.035
große Spannweite. Aber: was heißt denn »Fest« anderes, als pse_399.036
das innerste Ergriffensein von dem Glanz des Intellekts? Da pse_399.037
bricht ein Jubel aus über die Leistungen des Intellekts, der pse_399.038
Intellekt feiert seine Möglichkeiten, und der Mensch erlebt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0415" n="399"/><lb n="pse_399.001"/>
»Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber <lb n="pse_399.002"/>
der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes <lb n="pse_399.003"/>
als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der <lb n="pse_399.004"/>
reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte <lb n="pse_399.005"/>
zerlegbar ist. &#x203A;Gemüt? Gemüt habe ich keines&#x2039;, sagt der große <lb n="pse_399.006"/>
Zauberer Benn von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten <lb n="pse_399.007"/>
sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt <lb n="pse_399.008"/>
sie mit harten, dissonantischen Worten.« Da ist deutlich, <lb n="pse_399.009"/>
daß »Gemüt« im engen Sinn des Weichen, Behaglichen, <lb n="pse_399.010"/>
Sentimentalen genommen wird. Wollte man sich auf »Innerstes <lb n="pse_399.011"/>
des Menschen« einigen, ich glaube, die Meinungsverschiedenheiten <lb n="pse_399.012"/>
würden stark eingeschränkt. Denn wenn ein <lb n="pse_399.013"/>
Dichter dort, wo Weichheiten sich einstellen wollen, solche <lb n="pse_399.014"/>
mit harten, dissonantischen Worten zerreißt, so offenbart sich <lb n="pse_399.015"/>
darin erstens sehr deutlich ein lyrisches Ich, dann auch eine <lb n="pse_399.016"/>
innerste Haltung, aus der dieses Zerreißen herausstößt. Und <lb n="pse_399.017"/>
wenn Gesamthaltungen sich nicht mehr in einzelne Gefühlstöne <lb n="pse_399.018"/>
zerlegen lassen, so heißt das doch nicht, daß diese Gesamthaltung <lb n="pse_399.019"/>
nichts mit dem Innersten zu tun hat.</p>
            <p><lb n="pse_399.020"/>
So ist auch die eisige Intellektualität eine innerste menschliche <lb n="pse_399.021"/>
Haltung, etwas, wo sich der Kern, das Wesen, also das <lb n="pse_399.022"/>
Tiefste eines Menschen, offenbart. Gewiß eine ganz andere Haltung <lb n="pse_399.023"/>
als die, aus der romantischen Lyrik gespeist ist oder gar <lb n="pse_399.024"/>
sentimentale Schmachtverse, aber eben doch Gestaltung aus <lb n="pse_399.025"/>
dem Innersten. Auch die dissonanten Spannungen in modernen <lb n="pse_399.026"/>
Gedichten sprechen aus einem menschlichen Inneren, aus <lb n="pse_399.027"/>
der Not und Zerrissenheit, in die unsere Menschheit hineingestoßen <lb n="pse_399.028"/>
worden ist. Schreie solcher Art kommen aus dem <lb n="pse_399.029"/>
Tiefsten der Menschen, sie zeigen auch das Ergriffenwerden <lb n="pse_399.030"/>
von der Wirklichkeit, die auf sie eindrängt. Valéry sagt: ein <lb n="pse_399.031"/>
Gedicht solle ein Fest des Intellekts sein, Breton dagegen, ein <lb n="pse_399.032"/>
Gedicht solle der Zusammenbruch des Intellekts sein. Valéry <lb n="pse_399.033"/>
betont also das Rationale, Breton den Durchbruch archaischer <lb n="pse_399.034"/>
Kräfte durch die Schichten des Rationalen. Das ist eine <lb n="pse_399.035"/>
große Spannweite. Aber: was heißt denn »Fest« anderes, als <lb n="pse_399.036"/>
das innerste Ergriffensein von dem Glanz des Intellekts? Da <lb n="pse_399.037"/>
bricht ein Jubel aus über die Leistungen des Intellekts, der <lb n="pse_399.038"/>
Intellekt feiert seine Möglichkeiten, und der Mensch erlebt
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0415] pse_399.001 »Das schließt nicht aus, daß ein solches Gedicht dem Zauber pse_399.002 der Seele entspringt und ihn weckt. Aber das ist etwas anderes pse_399.003 als Gemüt. Es ist eine Vielstimmigkeit und Unbedingtheit der pse_399.004 reinen Subjektivität, die nicht mehr in einzelne Gefühlswerte pse_399.005 zerlegbar ist. ›Gemüt? Gemüt habe ich keines‹, sagt der große pse_399.006 Zauberer Benn von sich. Wo gemütsähnliche Weichheiten pse_399.007 sich einstellen wollen, fährt ein Querschläger dazwischen, zerreißt pse_399.008 sie mit harten, dissonantischen Worten.« Da ist deutlich, pse_399.009 daß »Gemüt« im engen Sinn des Weichen, Behaglichen, pse_399.010 Sentimentalen genommen wird. Wollte man sich auf »Innerstes pse_399.011 des Menschen« einigen, ich glaube, die Meinungsverschiedenheiten pse_399.012 würden stark eingeschränkt. Denn wenn ein pse_399.013 Dichter dort, wo Weichheiten sich einstellen wollen, solche pse_399.014 mit harten, dissonantischen Worten zerreißt, so offenbart sich pse_399.015 darin erstens sehr deutlich ein lyrisches Ich, dann auch eine pse_399.016 innerste Haltung, aus der dieses Zerreißen herausstößt. Und pse_399.017 wenn Gesamthaltungen sich nicht mehr in einzelne Gefühlstöne pse_399.018 zerlegen lassen, so heißt das doch nicht, daß diese Gesamthaltung pse_399.019 nichts mit dem Innersten zu tun hat. pse_399.020 So ist auch die eisige Intellektualität eine innerste menschliche pse_399.021 Haltung, etwas, wo sich der Kern, das Wesen, also das pse_399.022 Tiefste eines Menschen, offenbart. Gewiß eine ganz andere Haltung pse_399.023 als die, aus der romantischen Lyrik gespeist ist oder gar pse_399.024 sentimentale Schmachtverse, aber eben doch Gestaltung aus pse_399.025 dem Innersten. Auch die dissonanten Spannungen in modernen pse_399.026 Gedichten sprechen aus einem menschlichen Inneren, aus pse_399.027 der Not und Zerrissenheit, in die unsere Menschheit hineingestoßen pse_399.028 worden ist. Schreie solcher Art kommen aus dem pse_399.029 Tiefsten der Menschen, sie zeigen auch das Ergriffenwerden pse_399.030 von der Wirklichkeit, die auf sie eindrängt. Valéry sagt: ein pse_399.031 Gedicht solle ein Fest des Intellekts sein, Breton dagegen, ein pse_399.032 Gedicht solle der Zusammenbruch des Intellekts sein. Valéry pse_399.033 betont also das Rationale, Breton den Durchbruch archaischer pse_399.034 Kräfte durch die Schichten des Rationalen. Das ist eine pse_399.035 große Spannweite. Aber: was heißt denn »Fest« anderes, als pse_399.036 das innerste Ergriffensein von dem Glanz des Intellekts? Da pse_399.037 bricht ein Jubel aus über die Leistungen des Intellekts, der pse_399.038 Intellekt feiert seine Möglichkeiten, und der Mensch erlebt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/415
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/415>, abgerufen am 20.05.2024.