pse_389.001 den wir schon einmal erörtert haben (S. 85 f.). Wir pse_389.002 haben dort schon gesehen, daß er heute vielfach auf Ablehnung pse_389.003 stößt. Das geht soweit, daß man jetzt hören kann, pse_389.004 Homer und Plato hätten überhaupt nichts erlebt; oder: das pse_389.005 Wort "Gemüt" hätte in moderner Literaturwissenschaft überhaupt pse_389.006 nichts mehr zu tun. Auf die Gefahr hin, in den Geruch pse_389.007 der Vergreisung zu kommen, sei aber trotzdem gesagt: diese pse_389.008 Äußerungen sind nur möglich, wenn man die Worte Erlebnis pse_389.009 und Gemüt so einengt, daß man mit ihnen im entsprechenden pse_389.010 Sinne arbeiten, d. h. sie ablehnen kann. Daß sie vielfach pse_389.011 mißbraucht wurden und werden, ist noch kein Anlaß, den pse_389.012 Gehalt, der in ihnen liegt, die Erfahrungsbereiche, die mit pse_389.013 ihnen umgrenzt und erfaßt werden, selbst abzulehnen oder pse_389.014 gar lächerlich zu machen. Nochmals betonen wir, daß wir pse_389.015 jede Weltbegegnung eines Menschen, die in seine Tiefe dringt, pse_389.016 die sein Inneres ergreift, bewegt und formt, ein Erlebnis pse_389.017 nennen. Und wenn ein Dichter wirklich ein tiefes, vollendetes pse_389.018 und glühendes Liebesgedicht, das uns ergreift, schaffen sollte pse_389.019 ohne im mindesten jemals Liebe "erlebt" zu haben, dann ist pse_389.020 immerhin die innere Erregung, ein schönes und vollendetes pse_389.021 Gedicht zu schaffen, vorhanden: also doch ein Erlebnis.
pse_389.022 Ein erstes Kennzeichen der Lyrik nach unserer Wesensbestimmung pse_389.023 ist die Gestaltung einer unmittelbaren Weltbegegnung; pse_389.024 im lyrischen Gedicht wird ein Etwas gestaltet und pse_389.025 zugleich, daß es irgendwie erlebt wurde. Es scheint aber nicht pse_389.026 unbedingt nötig, daß es in der Ich-Form geschrieben sei. pse_389.027 Eichendorffs Gedichte sind reine Beispiele der Ich-Form. pse_389.028 Aber auch C. F. Meyers "Römischer Brunnen", viele Gedichte pse_389.029 Rilkes, z. B. "Der Panther", enthalten sehr deutlich das Ergriffensein pse_389.030 eines Menschen. Das prägt sich im Rhythmus, in pse_389.031 den Bildern, in dem Gehalt der Worte aus. Doch tritt das pse_389.032 Ich insofern zurück, als es sprachlich nicht da ist. Ob der pse_389.033 Dichter selber das Erlebnis gehabt hat und wir es ihm glauben pse_389.034 sollen, oder ob wir wissen, daß das im Gedicht gestaltete pse_389.035 menschliche Ergriffensein nur "erfunden" ist, also eine Fiktion pse_389.036 sei, spielt für das dichterische Gebilde nur insofern eine Rolle, pse_389.037 als man die Ergriffenheit des Dichters an der Vollendung der pse_389.038 künstlerischen Form spüren wird. Das Wesentliche bleibt, daß
pse_389.001 den wir schon einmal erörtert haben (S. 85 f.). Wir pse_389.002 haben dort schon gesehen, daß er heute vielfach auf Ablehnung pse_389.003 stößt. Das geht soweit, daß man jetzt hören kann, pse_389.004 Homer und Plato hätten überhaupt nichts erlebt; oder: das pse_389.005 Wort »Gemüt« hätte in moderner Literaturwissenschaft überhaupt pse_389.006 nichts mehr zu tun. Auf die Gefahr hin, in den Geruch pse_389.007 der Vergreisung zu kommen, sei aber trotzdem gesagt: diese pse_389.008 Äußerungen sind nur möglich, wenn man die Worte Erlebnis pse_389.009 und Gemüt so einengt, daß man mit ihnen im entsprechenden pse_389.010 Sinne arbeiten, d. h. sie ablehnen kann. Daß sie vielfach pse_389.011 mißbraucht wurden und werden, ist noch kein Anlaß, den pse_389.012 Gehalt, der in ihnen liegt, die Erfahrungsbereiche, die mit pse_389.013 ihnen umgrenzt und erfaßt werden, selbst abzulehnen oder pse_389.014 gar lächerlich zu machen. Nochmals betonen wir, daß wir pse_389.015 jede Weltbegegnung eines Menschen, die in seine Tiefe dringt, pse_389.016 die sein Inneres ergreift, bewegt und formt, ein Erlebnis pse_389.017 nennen. Und wenn ein Dichter wirklich ein tiefes, vollendetes pse_389.018 und glühendes Liebesgedicht, das uns ergreift, schaffen sollte pse_389.019 ohne im mindesten jemals Liebe »erlebt« zu haben, dann ist pse_389.020 immerhin die innere Erregung, ein schönes und vollendetes pse_389.021 Gedicht zu schaffen, vorhanden: also doch ein Erlebnis.
pse_389.022 Ein erstes Kennzeichen der Lyrik nach unserer Wesensbestimmung pse_389.023 ist die Gestaltung einer unmittelbaren Weltbegegnung; pse_389.024 im lyrischen Gedicht wird ein Etwas gestaltet und pse_389.025 zugleich, daß es irgendwie erlebt wurde. Es scheint aber nicht pse_389.026 unbedingt nötig, daß es in der Ich-Form geschrieben sei. pse_389.027 Eichendorffs Gedichte sind reine Beispiele der Ich-Form. pse_389.028 Aber auch C. F. Meyers »Römischer Brunnen«, viele Gedichte pse_389.029 Rilkes, z. B. »Der Panther«, enthalten sehr deutlich das Ergriffensein pse_389.030 eines Menschen. Das prägt sich im Rhythmus, in pse_389.031 den Bildern, in dem Gehalt der Worte aus. Doch tritt das pse_389.032 Ich insofern zurück, als es sprachlich nicht da ist. Ob der pse_389.033 Dichter selber das Erlebnis gehabt hat und wir es ihm glauben pse_389.034 sollen, oder ob wir wissen, daß das im Gedicht gestaltete pse_389.035 menschliche Ergriffensein nur »erfunden« ist, also eine Fiktion pse_389.036 sei, spielt für das dichterische Gebilde nur insofern eine Rolle, pse_389.037 als man die Ergriffenheit des Dichters an der Vollendung der pse_389.038 künstlerischen Form spüren wird. Das Wesentliche bleibt, daß
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den wir schon einmal erörtert haben (S. 85 f.). Wir pse_389.002
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Homer und Plato hätten überhaupt nichts erlebt; oder: das pse_389.005
Wort »Gemüt« hätte in moderner Literaturwissenschaft überhaupt pse_389.006
nichts mehr zu tun. Auf die Gefahr hin, in den Geruch pse_389.007
der Vergreisung zu kommen, sei aber trotzdem gesagt: diese pse_389.008
Äußerungen sind nur möglich, wenn man die Worte Erlebnis pse_389.009
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Sinne arbeiten, d. h. sie ablehnen kann. Daß sie vielfach pse_389.011
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/405>, abgerufen am 22.11.2024.
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