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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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eines Werkes zur Gattung erkennen und desto vollkommener pse_371.002
wird unser Blick auf die geschichtliche Entwicklung der pse_371.003
Gattung werden.

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Wir suchen also in dieser letzten Betrachtung über geschichtlich pse_371.005
gebundene Gattungen zu zeitlosen Möglichkeiten pse_371.006
dichterischer Werksetzung vorzustoßen. Wir wollen für diese pse_371.007
Gruppen statt des Wortes Gattung das Wort "Typus" wählen. pse_371.008
Die Gattung bezeichnet mehr eine konkrete Gestaltung, der pse_371.009
Typus betont die durchwaltenden Tendenzen, die jederzeitige pse_371.010
Möglichkeit. Dabei zeigt sich, daß in geschichtlichen Verwirklichungen pse_371.011
und Mischungen die Typen selbst sich nicht pse_371.012
wandeln. Freilich sind auch diese zeitlosen Grundformen dichterischen pse_371.013
Schaffens mindestens kulturkreismäßig bestimmt: pse_371.014
die Ballade und das Heldenlied dürften in diesem Typus kaum pse_371.015
im Chinesischen anzutreffen sein. Der Typus als solcher besteht pse_371.016
zeit- und raumlos. Aber Verwirklichungen zeigen sich pse_371.017
nicht überall und jederzeit.

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Bei der Betrachtung solcher Typen, die kaum je in ein pse_371.019
vollständiges System gebracht werden können, ordnen wir pse_371.020
nicht mehr nach den großen Gattungen, indem wir die möglichen pse_371.021
Typen in sie einordnen, sondern gruppieren nach pse_371.022
anderen Gesichtspunkten. Wir unterscheiden vor allem einfache pse_371.023
Formen und höhere Formen.

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Die Betrachtung der einfachen Formen ist verhältnismäßig pse_371.025
jung. Es sind die urtümlichsten Formen sprachlicher Geprägtheit. pse_371.026
Sie sind, ähnlich den grammatischen Formen, nicht persönlichkeitsgebunden. pse_371.027
Man kann sie sich dadurch entstanden pse_371.028
denken, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Welt durch pse_371.029
einen geistigen Akt, durch Geistesbeschäftigung also, zu Gestalten pse_371.030
verdichtet wird, und zwar in bestimmter sprachlicher pse_371.031
Prägung. Die Sprache selbst, in einem geistigen Akt, ergreift pse_371.032
ein Stück Welt und macht es in einer bestimmten Form bündig. pse_371.033
Man bezeichnet diese sprachlich-geistigen Verdichtungsgebilde pse_371.034
auch als sprachliche Gebärden. Man kann verschiedene pse_371.035
Arten einfacher Formen unterscheiden. Zunächst schon pse_371.036
solche, in denen eben eine solche Sprachgebärde sich in reiner pse_371.037
Form darstellt, andere, in denen zwischen diesen sprachgebärdehaften pse_371.038
Verdichtungen verbindende Teile vorkommen,

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eines Werkes zur Gattung erkennen und desto vollkommener pse_371.002
wird unser Blick auf die geschichtliche Entwicklung der pse_371.003
Gattung werden.

pse_371.004
Wir suchen also in dieser letzten Betrachtung über geschichtlich pse_371.005
gebundene Gattungen zu zeitlosen Möglichkeiten pse_371.006
dichterischer Werksetzung vorzustoßen. Wir wollen für diese pse_371.007
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Die Gattung bezeichnet mehr eine konkrete Gestaltung, der pse_371.009
Typus betont die durchwaltenden Tendenzen, die jederzeitige pse_371.010
Möglichkeit. Dabei zeigt sich, daß in geschichtlichen Verwirklichungen pse_371.011
und Mischungen die Typen selbst sich nicht pse_371.012
wandeln. Freilich sind auch diese zeitlosen Grundformen dichterischen pse_371.013
Schaffens mindestens kulturkreismäßig bestimmt: pse_371.014
die Ballade und das Heldenlied dürften in diesem Typus kaum pse_371.015
im Chinesischen anzutreffen sein. Der Typus als solcher besteht pse_371.016
zeit- und raumlos. Aber Verwirklichungen zeigen sich pse_371.017
nicht überall und jederzeit.

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Bei der Betrachtung solcher Typen, die kaum je in ein pse_371.019
vollständiges System gebracht werden können, ordnen wir pse_371.020
nicht mehr nach den großen Gattungen, indem wir die möglichen pse_371.021
Typen in sie einordnen, sondern gruppieren nach pse_371.022
anderen Gesichtspunkten. Wir unterscheiden vor allem einfache pse_371.023
Formen und höhere Formen.

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Die Betrachtung der einfachen Formen ist verhältnismäßig pse_371.025
jung. Es sind die urtümlichsten Formen sprachlicher Geprägtheit. pse_371.026
Sie sind, ähnlich den grammatischen Formen, nicht persönlichkeitsgebunden. pse_371.027
Man kann sie sich dadurch entstanden pse_371.028
denken, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Welt durch pse_371.029
einen geistigen Akt, durch Geistesbeschäftigung also, zu Gestalten pse_371.030
verdichtet wird, und zwar in bestimmter sprachlicher pse_371.031
Prägung. Die Sprache selbst, in einem geistigen Akt, ergreift pse_371.032
ein Stück Welt und macht es in einer bestimmten Form bündig. pse_371.033
Man bezeichnet diese sprachlich-geistigen Verdichtungsgebilde pse_371.034
auch als sprachliche Gebärden. Man kann verschiedene pse_371.035
Arten einfacher Formen unterscheiden. Zunächst schon pse_371.036
solche, in denen eben eine solche Sprachgebärde sich in reiner pse_371.037
Form darstellt, andere, in denen zwischen diesen sprachgebärdehaften pse_371.038
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[371/0387] pse_371.001 eines Werkes zur Gattung erkennen und desto vollkommener pse_371.002 wird unser Blick auf die geschichtliche Entwicklung der pse_371.003 Gattung werden. pse_371.004 Wir suchen also in dieser letzten Betrachtung über geschichtlich pse_371.005 gebundene Gattungen zu zeitlosen Möglichkeiten pse_371.006 dichterischer Werksetzung vorzustoßen. Wir wollen für diese pse_371.007 Gruppen statt des Wortes Gattung das Wort »Typus« wählen. pse_371.008 Die Gattung bezeichnet mehr eine konkrete Gestaltung, der pse_371.009 Typus betont die durchwaltenden Tendenzen, die jederzeitige pse_371.010 Möglichkeit. Dabei zeigt sich, daß in geschichtlichen Verwirklichungen pse_371.011 und Mischungen die Typen selbst sich nicht pse_371.012 wandeln. Freilich sind auch diese zeitlosen Grundformen dichterischen pse_371.013 Schaffens mindestens kulturkreismäßig bestimmt: pse_371.014 die Ballade und das Heldenlied dürften in diesem Typus kaum pse_371.015 im Chinesischen anzutreffen sein. Der Typus als solcher besteht pse_371.016 zeit- und raumlos. Aber Verwirklichungen zeigen sich pse_371.017 nicht überall und jederzeit. pse_371.018 Bei der Betrachtung solcher Typen, die kaum je in ein pse_371.019 vollständiges System gebracht werden können, ordnen wir pse_371.020 nicht mehr nach den großen Gattungen, indem wir die möglichen pse_371.021 Typen in sie einordnen, sondern gruppieren nach pse_371.022 anderen Gesichtspunkten. Wir unterscheiden vor allem einfache pse_371.023 Formen und höhere Formen. pse_371.024 Die Betrachtung der einfachen Formen ist verhältnismäßig pse_371.025 jung. Es sind die urtümlichsten Formen sprachlicher Geprägtheit. pse_371.026 Sie sind, ähnlich den grammatischen Formen, nicht persönlichkeitsgebunden. pse_371.027 Man kann sie sich dadurch entstanden pse_371.028 denken, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Welt durch pse_371.029 einen geistigen Akt, durch Geistesbeschäftigung also, zu Gestalten pse_371.030 verdichtet wird, und zwar in bestimmter sprachlicher pse_371.031 Prägung. Die Sprache selbst, in einem geistigen Akt, ergreift pse_371.032 ein Stück Welt und macht es in einer bestimmten Form bündig. pse_371.033 Man bezeichnet diese sprachlich-geistigen Verdichtungsgebilde pse_371.034 auch als sprachliche Gebärden. Man kann verschiedene pse_371.035 Arten einfacher Formen unterscheiden. Zunächst schon pse_371.036 solche, in denen eben eine solche Sprachgebärde sich in reiner pse_371.037 Form darstellt, andere, in denen zwischen diesen sprachgebärdehaften pse_371.038 Verdichtungen verbindende Teile vorkommen,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/387>, abgerufen am 13.05.2024.