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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Und solche, die dahin wirken, daß sich Arten in ihrem Innern pse_367.002
ausbreiten, daß neue Bereiche anschließen, daß sich die Formen pse_367.003
runden, wie das an der Entfaltung des Romans seit dem 18. Jahrhundert pse_367.004
zu sehen ist; G. Müller nennt sie Schwellkräfte.

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Bei der Ausbildung fester Formen ist die Entstehung und pse_367.006
die Wirkungsgeschichte zu unterscheiden. Petrarca war nicht pse_367.007
der Schöpfer des Sonetts, das seine Wurzeln in der lyrischen pse_367.008
Dichtung des Mittelalters hat; aber von ihm aus tritt es pse_367.009
seinen Siegeszug durch die Renaissance-Literaturen an. Anders pse_367.010
wieder ist es mit dem Geschichtsroman. Auch er hat seine pse_367.011
Wurzeln in verschiedensten literarischen Bereichen. Die ersten pse_367.012
bedeutungsvollen Leistungen entstehen beinahe gleichzeitig pse_367.013
in England mit W. Scott und in Deutschland mit Achim pse_367.014
von Arnim. Aber die größere Durchschlagskraft Scotts regt pse_367.015
erst recht die Dichter des 19. Jahrhunderts an. Sehr reich und pse_367.016
verzweigt sind etwa die Ansätze zur echten Bauerndichtung. pse_367.017
Man kann nicht sagen, daß Gotthelf ihr Schöpfer ist, auch ist pse_367.018
die spätere Bauerndichtung nicht von ihm allein abhängig. pse_367.019
Für die Ausbildung fester Formen sind zwei Begriffe wichtig. pse_367.020
Zunächst der des Musters. Es handelt sich bei der Tradition pse_367.021
immer auch um die Wirkung bestimmter Muster. Auch pse_367.022
große Dichter richten sich etwa in Jugendwerken nach ihnen, pse_367.023
so Goethe nach Shakespeare, und zwar in dem Maß, daß pse_367.024
Herder ihn sogar warnte. Für Uhlands Dramen sind die pse_367.025
Schillers ausschließliches Muster gewesen. Ein anderer Begriff pse_367.026
ist der des Spielraums. Es zeigt sich, daß die einzelnen pse_367.027
Gattungen auch auf eine bestimmte Länge eingestellt sind. pse_367.028
Man kann nicht allzulange rein lyrisch gestimmt sein, daher pse_367.029
sind lyrische Gedichte in der Länge beschränkt, sonst ermüden pse_367.030
sie. Umgekehrt verlangt das epische Zuschauen eine pse_367.031
gewisse Entfaltungsmöglichkeit, Epen müssen also eine gewisse pse_367.032
Länge haben. Endlich stehen einzelne dichterische Arten pse_367.033
auch mit sprachlicher Formung in bestimmter Beziehung. pse_367.034
Die Oden im strengen Sinn des Wortes, also Gedichte in einer pse_367.035
der antiken Odenstrophen, und die Sonette haben hier kaum pse_367.036
Freiheiten. Und gerade diese streng gebauten Gedichte zeigen pse_367.037
neben dem Gefühlhaften auch starke Elemente der Reflexion, pse_367.038
während diese in den Liedern und Hymnen, die in der metrischen

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Und solche, die dahin wirken, daß sich Arten in ihrem Innern pse_367.002
ausbreiten, daß neue Bereiche anschließen, daß sich die Formen pse_367.003
runden, wie das an der Entfaltung des Romans seit dem 18. Jahrhundert pse_367.004
zu sehen ist; G. Müller nennt sie Schwellkräfte.

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Bei der Ausbildung fester Formen ist die Entstehung und pse_367.006
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der Schöpfer des Sonetts, das seine Wurzeln in der lyrischen pse_367.008
Dichtung des Mittelalters hat; aber von ihm aus tritt es pse_367.009
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wieder ist es mit dem Geschichtsroman. Auch er hat seine pse_367.011
Wurzeln in verschiedensten literarischen Bereichen. Die ersten pse_367.012
bedeutungsvollen Leistungen entstehen beinahe gleichzeitig pse_367.013
in England mit W. Scott und in Deutschland mit Achim pse_367.014
von Arnim. Aber die größere Durchschlagskraft Scotts regt pse_367.015
erst recht die Dichter des 19. Jahrhunderts an. Sehr reich und pse_367.016
verzweigt sind etwa die Ansätze zur echten Bauerndichtung. pse_367.017
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die spätere Bauerndichtung nicht von ihm allein abhängig. pse_367.019
Für die Ausbildung fester Formen sind zwei Begriffe wichtig. pse_367.020
Zunächst der des Musters. Es handelt sich bei der Tradition pse_367.021
immer auch um die Wirkung bestimmter Muster. Auch pse_367.022
große Dichter richten sich etwa in Jugendwerken nach ihnen, pse_367.023
so Goethe nach Shakespeare, und zwar in dem Maß, daß pse_367.024
Herder ihn sogar warnte. Für Uhlands Dramen sind die pse_367.025
Schillers ausschließliches Muster gewesen. Ein anderer Begriff pse_367.026
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Gattungen auch auf eine bestimmte Länge eingestellt sind. pse_367.028
Man kann nicht allzulange rein lyrisch gestimmt sein, daher pse_367.029
sind lyrische Gedichte in der Länge beschränkt, sonst ermüden pse_367.030
sie. Umgekehrt verlangt das epische Zuschauen eine pse_367.031
gewisse Entfaltungsmöglichkeit, Epen müssen also eine gewisse pse_367.032
Länge haben. Endlich stehen einzelne dichterische Arten pse_367.033
auch mit sprachlicher Formung in bestimmter Beziehung. pse_367.034
Die Oden im strengen Sinn des Wortes, also Gedichte in einer pse_367.035
der antiken Odenstrophen, und die Sonette haben hier kaum pse_367.036
Freiheiten. Und gerade diese streng gebauten Gedichte zeigen pse_367.037
neben dem Gefühlhaften auch starke Elemente der Reflexion, pse_367.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/383>, abgerufen am 13.05.2024.