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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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soziale Familien- und Bürgerroman im England des 18. Jahrhunderts pse_366.002
und dann vor allem der deutsche Bildungsroman des pse_366.003
19. Jahrhunderts. Und scheint nicht das sogenannte "epische pse_366.004
Theater" eine besondere Schöpfung unserer Zeit zu werden? pse_366.005
Dasselbe gilt sogar für Vers- und Strophenformen: Dantes pse_366.006
Terza Rima, der Alexandriner der Barockzeit, der Blankvers. pse_366.007
Hier spüren wir deutlich geschichtliche und gesellschaftliche pse_366.008
Einflüsse auf die literarische Gruppenbildung. Wenn nun die pse_366.009
Bindungen an die Ursprungssituation solcher Gruppenbildungen pse_366.010
sich lösen, dann sterben sie langsam ab. Das erkennt pse_366.011
man heute besonders deutlich am Bildungsroman, der aus pse_366.012
einer menschlichen Situation und einem Menschenbild gewachsen pse_366.013
ist, die heute weitgehend geändert sind. Die spätere pse_366.014
Wertschätzung solcher Arten als Dichtungsmöglichkeiten überhaupt pse_366.015
geschieht dann bereits unter veränderten Umständen. pse_366.016
Wir werten heute die Homerischen Epen, das Drama Shakespeares, pse_366.017
den "Wilhelm Meister", die Sonette des Gryphius zwar pse_366.018
immer noch oder auch erneut als hohe dichterische Kunstwerke pse_366.019
und mit ihnen zugleich die Arten, für die sie kennzeichnend pse_366.020
sind. Aber diese Wertung dürfte völlig verschieden sein von pse_366.021
der, die ihnen die Zeitgenossen zuteil werden ließen.

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Es kommt also mit der Zeit zur Ausbildung fester Formen. pse_366.023
Sie könnte in zweifacher Richtung verfolgt werden. Das pse_366.024
eine Mal sehen wir, wie eine bestimmte Art, die sich in gewissen pse_366.025
Epochen zur höchsten Vollendung entfaltet hat, immer pse_366.026
weiter wirkt, wenn auch unter verschiedenen Namen. So pse_366.027
etwa die griechische Odendichtung. Umgekehrt gibt es aber pse_366.028
auch ein Weiterwirken des Gattungsnamens. Es ist verschieden, pse_366.029
was in bestimmten Zeiten alles unter dem Namen "Ode" pse_366.030
verstanden wurde. Man hat versucht, dieses Sich-Ausformen pse_366.031
dieses Sich-Entfalten von Arten mit dem organischen Wachstum pse_366.032
zu vergleichen. Das kann lehrreich sein, verleitet aber, pse_366.033
die vielen rationalen und gelenkten Antriebe zu verkennen, pse_366.034
die im Geistesleben, also auch in der Kunst, wirken. Sicher pse_366.035
aber kann man beim Werden dichterischer Arten zwei Kräfte pse_366.036
unterscheiden: solche, die vorantreiben und weiterleiten, die pse_366.037
also z. B. zu der immer breiter werdenden Pflege des Sonetts pse_366.038
geführt haben; man mag sie mit G. Müller Führkräfte nennen.

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soziale Familien- und Bürgerroman im England des 18. Jahrhunderts pse_366.002
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Es kommt also mit der Zeit zur Ausbildung fester Formen. pse_366.023
Sie könnte in zweifacher Richtung verfolgt werden. Das pse_366.024
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Epochen zur höchsten Vollendung entfaltet hat, immer pse_366.026
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etwa die griechische Odendichtung. Umgekehrt gibt es aber pse_366.028
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aber kann man beim Werden dichterischer Arten zwei Kräfte pse_366.036
unterscheiden: solche, die vorantreiben und weiterleiten, die pse_366.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/382>, abgerufen am 12.05.2024.