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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Möglichkeit neuer Gattungen, für die wir in unserem System pse_347.002
noch keinen Platz haben, ist gegeben. Das heißt: Es hat Dichtungen pse_347.003
gegeben und es kann wieder solche geben, die in das pse_347.004
Dreiersystem nur gewaltsam eingebaut werden können. pse_347.005
Denn es ist ja erst knapp zwei Jahrhunderte alt. Und in diesem pse_347.006
Zeitraum können frühere Arten aus bestimmten Gründen pse_347.007
ganz zurückgetreten sein und neue sich erst langsam durchsetzen. pse_347.008
Eine Poetik allerdings, die das Ganze der Dichtung pse_347.009
auch zeitlich überblicken möchte, sollte weit genug sein, ohne pse_347.010
Gewaltsamkeit auch wirklich zu ordnen. Von diesem Gesichtspunkt pse_347.011
aus sei auch hier der Versuch gewagt, in einer pse_347.012
bestimmten Richtung an der geheiligten Dreizahl zu rütteln.

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Ein geschichtlicher Blick auf das Werden der Gattungen pse_347.014
und Arten gibt den Eindruck, daß sich ihre Zahl im Lauf der pse_347.015
Entwicklung stark vermehrt. Das hängt nicht bloß damit pse_347.016
zusammen, daß wir das zeitlich Naheliegende in seiner bedrängenden pse_347.017
Fülle reicher gliedern müssen, um es geistig zu pse_347.018
bewältigen, sondern wohl auch mit der gesamten immer pse_347.019
weitergehenden Lebensausdifferenzierung auf unserer Kulturstufe: pse_347.020
Die Umwelt wird immer verwirrender und umfangreicher, pse_347.021
so muß auch unser Stellungnehmen immer feiner ausgegliedert pse_347.022
werden. Das betrifft auch das künstlerische Antworten pse_347.023
auf alle uns zustoßenden Bedrängnisse. Dabei besteht pse_347.024
in der Poetik tatsächlich die Gefahr einer Überdifferenzierung: pse_347.025
Petersen hat ein Rad der Dichtungsarten versucht, auf dem er pse_347.026
neben der Urdichtung und innerhalb der drei Hauptgattungen pse_347.027
nicht weniger als 37 Arten unterbringt. Diese Überdifferenzierung pse_347.028
hängt auch damit zusammen, daß Typologisches und pse_347.029
Geschichtliches willkürlich vermischt werden.

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Diese verwirrende Vielheit hat auch dazu geführt, alle diese pse_347.031
Bemühungen abzulehnen, die Einteilung in Dichtungsgattungen pse_347.032
mit allem Nachdruck zu bekämpfen. Croce hat das pse_347.033
vor allem getan. Die Gattungen seien aus den Normen der pse_347.034
Poetiken seit dem Hellenismus erwachsen, diese Lehrbücher pse_347.035
hätten Autorität erlangt und die Dichter sich ihnen gebeugt. pse_347.036
Doch hat er nicht völlig überzeugen können. Gewiß wird pse_347.037
man die Autorität der Lehrbücher in ihrer Wirkung auf die pse_347.038
Ausbildung und Durchformung der Gattungen und Arten

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Möglichkeit neuer Gattungen, für die wir in unserem System pse_347.002
noch keinen Platz haben, ist gegeben. Das heißt: Es hat Dichtungen pse_347.003
gegeben und es kann wieder solche geben, die in das pse_347.004
Dreiersystem nur gewaltsam eingebaut werden können. pse_347.005
Denn es ist ja erst knapp zwei Jahrhunderte alt. Und in diesem pse_347.006
Zeitraum können frühere Arten aus bestimmten Gründen pse_347.007
ganz zurückgetreten sein und neue sich erst langsam durchsetzen. pse_347.008
Eine Poetik allerdings, die das Ganze der Dichtung pse_347.009
auch zeitlich überblicken möchte, sollte weit genug sein, ohne pse_347.010
Gewaltsamkeit auch wirklich zu ordnen. Von diesem Gesichtspunkt pse_347.011
aus sei auch hier der Versuch gewagt, in einer pse_347.012
bestimmten Richtung an der geheiligten Dreizahl zu rütteln.

pse_347.013
Ein geschichtlicher Blick auf das Werden der Gattungen pse_347.014
und Arten gibt den Eindruck, daß sich ihre Zahl im Lauf der pse_347.015
Entwicklung stark vermehrt. Das hängt nicht bloß damit pse_347.016
zusammen, daß wir das zeitlich Naheliegende in seiner bedrängenden pse_347.017
Fülle reicher gliedern müssen, um es geistig zu pse_347.018
bewältigen, sondern wohl auch mit der gesamten immer pse_347.019
weitergehenden Lebensausdifferenzierung auf unserer Kulturstufe: pse_347.020
Die Umwelt wird immer verwirrender und umfangreicher, pse_347.021
so muß auch unser Stellungnehmen immer feiner ausgegliedert pse_347.022
werden. Das betrifft auch das künstlerische Antworten pse_347.023
auf alle uns zustoßenden Bedrängnisse. Dabei besteht pse_347.024
in der Poetik tatsächlich die Gefahr einer Überdifferenzierung: pse_347.025
Petersen hat ein Rad der Dichtungsarten versucht, auf dem er pse_347.026
neben der Urdichtung und innerhalb der drei Hauptgattungen pse_347.027
nicht weniger als 37 Arten unterbringt. Diese Überdifferenzierung pse_347.028
hängt auch damit zusammen, daß Typologisches und pse_347.029
Geschichtliches willkürlich vermischt werden.

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Diese verwirrende Vielheit hat auch dazu geführt, alle diese pse_347.031
Bemühungen abzulehnen, die Einteilung in Dichtungsgattungen pse_347.032
mit allem Nachdruck zu bekämpfen. Croce hat das pse_347.033
vor allem getan. Die Gattungen seien aus den Normen der pse_347.034
Poetiken seit dem Hellenismus erwachsen, diese Lehrbücher pse_347.035
hätten Autorität erlangt und die Dichter sich ihnen gebeugt. pse_347.036
Doch hat er nicht völlig überzeugen können. Gewiß wird pse_347.037
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Ausbildung und Durchformung der Gattungen und Arten

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[347/0363] pse_347.001 Möglichkeit neuer Gattungen, für die wir in unserem System pse_347.002 noch keinen Platz haben, ist gegeben. Das heißt: Es hat Dichtungen pse_347.003 gegeben und es kann wieder solche geben, die in das pse_347.004 Dreiersystem nur gewaltsam eingebaut werden können. pse_347.005 Denn es ist ja erst knapp zwei Jahrhunderte alt. Und in diesem pse_347.006 Zeitraum können frühere Arten aus bestimmten Gründen pse_347.007 ganz zurückgetreten sein und neue sich erst langsam durchsetzen. pse_347.008 Eine Poetik allerdings, die das Ganze der Dichtung pse_347.009 auch zeitlich überblicken möchte, sollte weit genug sein, ohne pse_347.010 Gewaltsamkeit auch wirklich zu ordnen. Von diesem Gesichtspunkt pse_347.011 aus sei auch hier der Versuch gewagt, in einer pse_347.012 bestimmten Richtung an der geheiligten Dreizahl zu rütteln. pse_347.013 Ein geschichtlicher Blick auf das Werden der Gattungen pse_347.014 und Arten gibt den Eindruck, daß sich ihre Zahl im Lauf der pse_347.015 Entwicklung stark vermehrt. Das hängt nicht bloß damit pse_347.016 zusammen, daß wir das zeitlich Naheliegende in seiner bedrängenden pse_347.017 Fülle reicher gliedern müssen, um es geistig zu pse_347.018 bewältigen, sondern wohl auch mit der gesamten immer pse_347.019 weitergehenden Lebensausdifferenzierung auf unserer Kulturstufe: pse_347.020 Die Umwelt wird immer verwirrender und umfangreicher, pse_347.021 so muß auch unser Stellungnehmen immer feiner ausgegliedert pse_347.022 werden. Das betrifft auch das künstlerische Antworten pse_347.023 auf alle uns zustoßenden Bedrängnisse. Dabei besteht pse_347.024 in der Poetik tatsächlich die Gefahr einer Überdifferenzierung: pse_347.025 Petersen hat ein Rad der Dichtungsarten versucht, auf dem er pse_347.026 neben der Urdichtung und innerhalb der drei Hauptgattungen pse_347.027 nicht weniger als 37 Arten unterbringt. Diese Überdifferenzierung pse_347.028 hängt auch damit zusammen, daß Typologisches und pse_347.029 Geschichtliches willkürlich vermischt werden. pse_347.030 Diese verwirrende Vielheit hat auch dazu geführt, alle diese pse_347.031 Bemühungen abzulehnen, die Einteilung in Dichtungsgattungen pse_347.032 mit allem Nachdruck zu bekämpfen. Croce hat das pse_347.033 vor allem getan. Die Gattungen seien aus den Normen der pse_347.034 Poetiken seit dem Hellenismus erwachsen, diese Lehrbücher pse_347.035 hätten Autorität erlangt und die Dichter sich ihnen gebeugt. pse_347.036 Doch hat er nicht völlig überzeugen können. Gewiß wird pse_347.037 man die Autorität der Lehrbücher in ihrer Wirkung auf die pse_347.038 Ausbildung und Durchformung der Gattungen und Arten

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/363>, abgerufen am 22.11.2024.