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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Gegenwart, die zur Einfalt und stillen Größe aus all dem pse_337.002
Zerrissenen hinfindet oder auch nur hintastet, z. B. auch alle pse_337.003
echt christliche Dichtung der Gegenwart, als oberflächlich pse_337.004
oder verlogen angeprangert wird. Solches ist tatsächlich geschehen.

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Wir sind damit schon in die Nähe der Begriffe schön und pse_337.007
häßlich gekommen. Auch sie enthalten Werturteile, und zwar pse_337.008
ausgesprochen ästhetische. Aber auch da gilt es, sich vor pse_337.009
Mißverständnissen zu hüten. Vor allem: Diese Urteile gelten pse_337.010
unmittelbar für die Gestaltung. Moderne Ästhetiker haben pse_337.011
wieder das Wort "schön", wie wir das schon S. 35 f. angedeutet pse_337.012
haben, als Qualitätsbezeichnung für den ästhetischen Wert im pse_337.013
weitesten Sinn eingesetzt. In diesem Sinne wäre schön eben pse_337.014
das ästhetisch Wertvolle. Es würde unter sich alle Besonderungen pse_337.015
des Ästhetischen einbegreifen. Wir könnten dann in pse_337.016
leichter Abwandlung einer Bestimmung bei Nicolai Hartmann pse_337.017
mit Rücksicht auf das dichterische Werk, das auf pse_337.018
Sprache fundiert ist, sagen: Schön ist alles, dessen Gestaltung pse_337.019
uns ein Tieferes, ein Inneres offenbart. In diesem Zusammenklang pse_337.020
einer Gestalt und eines Inneren kann man Einstimmigkeit pse_337.021
sehen und eben darin wieder das Schöne erleben. Gewiß pse_337.022
muß da der Gehalt des Wortes "schön" sehr gedehnt pse_337.023
werden, wenn man an moderne Dichtung bestimmter Art pse_337.024
denkt. Vielleicht wäre der Ausdruck "ästhetisch vollendet" pse_337.025
oder ein ähnlicher vorzuziehen. Denn bei "schön" denkt man pse_337.026
immer doch irgendwie an Harmonie, und Zerrissenheit kann pse_337.027
durchaus künstlerisch belangvoll und bedeutsam sein. Man pse_337.028
kann eben die Welt entweder als Harmonie erleben und gestalten pse_337.029
oder als Labyrinth (R. Hocke). Damit geraten wir in pse_337.030
den Begriff des Häßlichen. Bei ihm ist die Unklarheit noch pse_337.031
größer. Vielfach spricht man von häßlichen Gegenständen. pse_337.032
Das ist etwa der Fall, wenn man an das Gedicht G. Benns von pse_337.033
der Krebsbaracke denkt. Thersites ist häßlich, ebenso Richard pse_337.034
III. Im naturalistischen Drama kommen solche Häßlichkeiten pse_337.035
zur Genüge vor. In allen diesen Fällen handelt es sich tatsächlich pse_337.036
um Häßliches im Bereich der Gestalt, also des Ästhetischen. pse_337.037
Das Häßliche im sittlichen Sinn wollen wir hier von pse_337.038
vornherein ausschalten. Häßlich im ästhetischen Sinn ist also

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Gegenwart, die zur Einfalt und stillen Größe aus all dem pse_337.002
Zerrissenen hinfindet oder auch nur hintastet, z. B. auch alle pse_337.003
echt christliche Dichtung der Gegenwart, als oberflächlich pse_337.004
oder verlogen angeprangert wird. Solches ist tatsächlich geschehen.

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Wir sind damit schon in die Nähe der Begriffe schön und pse_337.007
häßlich gekommen. Auch sie enthalten Werturteile, und zwar pse_337.008
ausgesprochen ästhetische. Aber auch da gilt es, sich vor pse_337.009
Mißverständnissen zu hüten. Vor allem: Diese Urteile gelten pse_337.010
unmittelbar für die Gestaltung. Moderne Ästhetiker haben pse_337.011
wieder das Wort »schön«, wie wir das schon S. 35 f. angedeutet pse_337.012
haben, als Qualitätsbezeichnung für den ästhetischen Wert im pse_337.013
weitesten Sinn eingesetzt. In diesem Sinne wäre schön eben pse_337.014
das ästhetisch Wertvolle. Es würde unter sich alle Besonderungen pse_337.015
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uns ein Tieferes, ein Inneres offenbart. In diesem Zusammenklang pse_337.020
einer Gestalt und eines Inneren kann man Einstimmigkeit pse_337.021
sehen und eben darin wieder das Schöne erleben. Gewiß pse_337.022
muß da der Gehalt des Wortes »schön« sehr gedehnt pse_337.023
werden, wenn man an moderne Dichtung bestimmter Art pse_337.024
denkt. Vielleicht wäre der Ausdruck »ästhetisch vollendet« pse_337.025
oder ein ähnlicher vorzuziehen. Denn bei »schön« denkt man pse_337.026
immer doch irgendwie an Harmonie, und Zerrissenheit kann pse_337.027
durchaus künstlerisch belangvoll und bedeutsam sein. Man pse_337.028
kann eben die Welt entweder als Harmonie erleben und gestalten pse_337.029
oder als Labyrinth (R. Hocke). Damit geraten wir in pse_337.030
den Begriff des Häßlichen. Bei ihm ist die Unklarheit noch pse_337.031
größer. Vielfach spricht man von häßlichen Gegenständen. pse_337.032
Das ist etwa der Fall, wenn man an das Gedicht G. Benns von pse_337.033
der Krebsbaracke denkt. Thersites ist häßlich, ebenso Richard pse_337.034
III. Im naturalistischen Drama kommen solche Häßlichkeiten pse_337.035
zur Genüge vor. In allen diesen Fällen handelt es sich tatsächlich pse_337.036
um Häßliches im Bereich der Gestalt, also des Ästhetischen. pse_337.037
Das Häßliche im sittlichen Sinn wollen wir hier von pse_337.038
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[337/0353] pse_337.001 Gegenwart, die zur Einfalt und stillen Größe aus all dem pse_337.002 Zerrissenen hinfindet oder auch nur hintastet, z. B. auch alle pse_337.003 echt christliche Dichtung der Gegenwart, als oberflächlich pse_337.004 oder verlogen angeprangert wird. Solches ist tatsächlich geschehen. pse_337.005 pse_337.006 Wir sind damit schon in die Nähe der Begriffe schön und pse_337.007 häßlich gekommen. Auch sie enthalten Werturteile, und zwar pse_337.008 ausgesprochen ästhetische. Aber auch da gilt es, sich vor pse_337.009 Mißverständnissen zu hüten. Vor allem: Diese Urteile gelten pse_337.010 unmittelbar für die Gestaltung. Moderne Ästhetiker haben pse_337.011 wieder das Wort »schön«, wie wir das schon S. 35 f. angedeutet pse_337.012 haben, als Qualitätsbezeichnung für den ästhetischen Wert im pse_337.013 weitesten Sinn eingesetzt. In diesem Sinne wäre schön eben pse_337.014 das ästhetisch Wertvolle. Es würde unter sich alle Besonderungen pse_337.015 des Ästhetischen einbegreifen. Wir könnten dann in pse_337.016 leichter Abwandlung einer Bestimmung bei Nicolai Hartmann pse_337.017 mit Rücksicht auf das dichterische Werk, das auf pse_337.018 Sprache fundiert ist, sagen: Schön ist alles, dessen Gestaltung pse_337.019 uns ein Tieferes, ein Inneres offenbart. In diesem Zusammenklang pse_337.020 einer Gestalt und eines Inneren kann man Einstimmigkeit pse_337.021 sehen und eben darin wieder das Schöne erleben. Gewiß pse_337.022 muß da der Gehalt des Wortes »schön« sehr gedehnt pse_337.023 werden, wenn man an moderne Dichtung bestimmter Art pse_337.024 denkt. Vielleicht wäre der Ausdruck »ästhetisch vollendet« pse_337.025 oder ein ähnlicher vorzuziehen. Denn bei »schön« denkt man pse_337.026 immer doch irgendwie an Harmonie, und Zerrissenheit kann pse_337.027 durchaus künstlerisch belangvoll und bedeutsam sein. Man pse_337.028 kann eben die Welt entweder als Harmonie erleben und gestalten pse_337.029 oder als Labyrinth (R. Hocke). Damit geraten wir in pse_337.030 den Begriff des Häßlichen. Bei ihm ist die Unklarheit noch pse_337.031 größer. Vielfach spricht man von häßlichen Gegenständen. pse_337.032 Das ist etwa der Fall, wenn man an das Gedicht G. Benns von pse_337.033 der Krebsbaracke denkt. Thersites ist häßlich, ebenso Richard pse_337.034 III. Im naturalistischen Drama kommen solche Häßlichkeiten pse_337.035 zur Genüge vor. In allen diesen Fällen handelt es sich tatsächlich pse_337.036 um Häßliches im Bereich der Gestalt, also des Ästhetischen. pse_337.037 Das Häßliche im sittlichen Sinn wollen wir hier von pse_337.038 vornherein ausschalten. Häßlich im ästhetischen Sinn ist also

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/353>, abgerufen am 13.05.2024.