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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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verfälscht. Aber es darf nicht übersehen werden, daß die Gespanntheiten, pse_336.002
Zerrissenheiten und Zertrümmerungen unserer pse_336.003
modernen Welt zwar in der Gespanntheit der Formung deutlich pse_336.004
erlebbar sein müssen, aber doch das Zusammenfügen zu pse_336.005
einer großen künstlerischen Ganzheit gelingen muß, wenn es pse_336.006
ein Kunstwerk sein soll, das ja aus der Gestaltung lebt. Meist pse_336.007
wird sich diese künstlerische Rundung daran zeigen, daß pse_336.008
durchs Ganze trotz allem eine einheitliche Grundgestimmtheit pse_336.009
geht. Zweifellos kommen wir durch solche Gestaltungen pse_336.010
an Grenzen der Kunst, zugleich aber ist es großen Dichtern pse_336.011
gerade da möglich, durch ihre Leistung diese Grenzen hinauszuschieben pse_336.012
und damit neue künstlerische Möglichkeiten zu pse_336.013
erringen. Aber Spannungen können auch Unstimmigkeiten pse_336.014
bedeuten, es kann zu Brüchen kommen. Sie sind gerade dann pse_336.015
zu erkennen, wenn sich nicht irgendein Sinn des betreffenden pse_336.016
Gliedes im Ganzen der Dichtung finden läßt, oder wenn er pse_336.017
sich nur spitzfindig hineinkonstruieren läßt.

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3. Diese Feststellungen über Spannungsmöglichkeiten pse_336.019
dürfen aber nicht dazu führen, klare Formen, Einfalt und geschlossene pse_336.020
Schlichtheit als solche abzuwerten. Gewiß kann pse_336.021
allzu glatte Form im ganzen oft Oberflächlichkeit, sogar Flucht pse_336.022
vor den Bedrängnissen der Welt bedeuten, statt ihrer künstlerisch pse_336.023
Herr zu werden. Aber grundsätzlich nur Zerstörung, pse_336.024
Hilflosigkeit, Aufgeben jeder Persönlichkeit, Zerstückelung pse_336.025
der Welt, ja sogar Vernichtung der künstlerischen Form für pse_336.026
künstlerisch einzig belangvoll in der heutigen Zeit zu halten pse_336.027
und das Gegenteil sogar als Unwahrheit anzusehen, ist arges pse_336.028
Danebengreifen. Auch Aussagen wie die, daß makellose pse_336.029
Form dem Geist der Kunst heute zuwider sei, daß Künstler nur pse_336.030
sei, wer an der zerbrechenden Form der Welt verblute, sind pse_336.031
gefährlich. Auch früher haben Künstler gelitten und Leiden pse_336.032
dargestellt, aber das Kunstwerk ist daran nicht zerbrochen. pse_336.033
Und immer wieder muß gesagt werden: Solche Ansichten pse_336.034
können uns den Wert gewisser Dichtungen unserer Zeit erschließen, pse_336.035
aber es besteht die Gefahr, daß sie zu ausschließlich pse_336.036
nur mehr solche Dichtungen Kunst nennen und damit die pse_336.037
Wege zur großen Dichtung von Homer bis Goethe verschütten. pse_336.038
Und die weitere Gefahr entsteht, daß echte Dichtung der

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verfälscht. Aber es darf nicht übersehen werden, daß die Gespanntheiten, pse_336.002
Zerrissenheiten und Zertrümmerungen unserer pse_336.003
modernen Welt zwar in der Gespanntheit der Formung deutlich pse_336.004
erlebbar sein müssen, aber doch das Zusammenfügen zu pse_336.005
einer großen künstlerischen Ganzheit gelingen muß, wenn es pse_336.006
ein Kunstwerk sein soll, das ja aus der Gestaltung lebt. Meist pse_336.007
wird sich diese künstlerische Rundung daran zeigen, daß pse_336.008
durchs Ganze trotz allem eine einheitliche Grundgestimmtheit pse_336.009
geht. Zweifellos kommen wir durch solche Gestaltungen pse_336.010
an Grenzen der Kunst, zugleich aber ist es großen Dichtern pse_336.011
gerade da möglich, durch ihre Leistung diese Grenzen hinauszuschieben pse_336.012
und damit neue künstlerische Möglichkeiten zu pse_336.013
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bedeuten, es kann zu Brüchen kommen. Sie sind gerade dann pse_336.015
zu erkennen, wenn sich nicht irgendein Sinn des betreffenden pse_336.016
Gliedes im Ganzen der Dichtung finden läßt, oder wenn er pse_336.017
sich nur spitzfindig hineinkonstruieren läßt.

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dürfen aber nicht dazu führen, klare Formen, Einfalt und geschlossene pse_336.020
Schlichtheit als solche abzuwerten. Gewiß kann pse_336.021
allzu glatte Form im ganzen oft Oberflächlichkeit, sogar Flucht pse_336.022
vor den Bedrängnissen der Welt bedeuten, statt ihrer künstlerisch pse_336.023
Herr zu werden. Aber grundsätzlich nur Zerstörung, pse_336.024
Hilflosigkeit, Aufgeben jeder Persönlichkeit, Zerstückelung pse_336.025
der Welt, ja sogar Vernichtung der künstlerischen Form für pse_336.026
künstlerisch einzig belangvoll in der heutigen Zeit zu halten pse_336.027
und das Gegenteil sogar als Unwahrheit anzusehen, ist arges pse_336.028
Danebengreifen. Auch Aussagen wie die, daß makellose pse_336.029
Form dem Geist der Kunst heute zuwider sei, daß Künstler nur pse_336.030
sei, wer an der zerbrechenden Form der Welt verblute, sind pse_336.031
gefährlich. Auch früher haben Künstler gelitten und Leiden pse_336.032
dargestellt, aber das Kunstwerk ist daran nicht zerbrochen. pse_336.033
Und immer wieder muß gesagt werden: Solche Ansichten pse_336.034
können uns den Wert gewisser Dichtungen unserer Zeit erschließen, pse_336.035
aber es besteht die Gefahr, daß sie zu ausschließlich pse_336.036
nur mehr solche Dichtungen Kunst nennen und damit die pse_336.037
Wege zur großen Dichtung von Homer bis Goethe verschütten. pse_336.038
Und die weitere Gefahr entsteht, daß echte Dichtung der

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/352>, abgerufen am 13.05.2024.