Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_325.001
herauslösen, schafft sofort besonders günstige Grundlagen pse_325.002
für die Ganzheit einer Dichtung. Die einzelnen durchgehenden pse_325.003
Formungskräfte bilden auch an der Einheit; also pse_325.004
etwa das Vorherrschen bestimmter Stilzüge: das starke Vorherrschen pse_325.005
der Ausrufe und Anrufe, besonders in der drängenden pse_325.006
Form herausfordernder Fragen, bildet einen durchgehenden pse_325.007
Grundzug in Goethes "Prometheus". Die besondere pse_325.008
Satzdynamik, die durch eine Kleistnovelle stürmt, bewirkt pse_325.009
den einheitlichen Guß des Kunstwerks. Die Schlußrahmung pse_325.010
in Grillparzers Lustspiel "Weh dem, der lügt!" gibt pse_325.011
der Abenteuerreihe im Inneren des Stückes ein klares Ziel und pse_325.012
rafft das Ganze kräftig zusammen. Endlich erwirken auch die pse_325.013
Stimmung und das Weltbild, das ja doch als solches eine pse_325.014
Ganzheit ist, die Geschlossenheit des Kunstwerks. Die Stimmung pse_325.015
der Rätselhaftigkeit und Ausweglosigkeit hält eine pse_325.016
Erzählung Kafkas fest zusammen, die innere Unsicherheit pse_325.017
und Zerrissenheit des Helden gibt manchem modernen pse_325.018
Roman die Einheit.

pse_325.019
Die Wertung

pse_325.020
Damit berühren wir ein besonders schwieriges Kapitel der pse_325.021
Poetik. Wir haben schon einigemal vom Wert einer Dichtung pse_325.022
und von der Wertung im Rahmen der Dichtungslehre oder pse_325.023
gegenüber einer einzelnen Dichtung gesprochen. Wir haben pse_325.024
ausdrücklich ein erstes Mal auf diese Fragen hingewiesen, als pse_325.025
wir von den Wertungsmöglichkeiten sprachen, die sich aus pse_325.026
dem Weltbild einer Dichtung ergeben (S. 23 ff.). Was dort pse_325.027
gleich zu Anfang über Grundlegendes ganz kurz angedeutet pse_325.028
wurde, ist hier zu wiederholen. Damals haben wir uns nur pse_325.029
um die Werthaftigkeit gekümmert, die sich aus dem Weltbild pse_325.030
ergibt. Zugleich aber ist klar geworden, daß Wertung pse_325.031
vom Weltbild der Dichtung her zwar notwendig, zugleich pse_325.032
aber bedenklich ist, weil man gerade dadurch das Künstlerische, pse_325.033
die Gestaltung eben dieses Weltbildes, leicht vernachlässigt. pse_325.034
Jede Wertlehre der Dichtkunst setzt eine bestimmte pse_325.035
Theorie der Dichtung oder der Ästhetik überhaupt voraus. pse_325.036
Freilich hängt sie auch vom Stand der gesamten Wertphilosophie

pse_325.001
herauslösen, schafft sofort besonders günstige Grundlagen pse_325.002
für die Ganzheit einer Dichtung. Die einzelnen durchgehenden pse_325.003
Formungskräfte bilden auch an der Einheit; also pse_325.004
etwa das Vorherrschen bestimmter Stilzüge: das starke Vorherrschen pse_325.005
der Ausrufe und Anrufe, besonders in der drängenden pse_325.006
Form herausfordernder Fragen, bildet einen durchgehenden pse_325.007
Grundzug in Goethes »Prometheus«. Die besondere pse_325.008
Satzdynamik, die durch eine Kleistnovelle stürmt, bewirkt pse_325.009
den einheitlichen Guß des Kunstwerks. Die Schlußrahmung pse_325.010
in Grillparzers Lustspiel »Weh dem, der lügt!« gibt pse_325.011
der Abenteuerreihe im Inneren des Stückes ein klares Ziel und pse_325.012
rafft das Ganze kräftig zusammen. Endlich erwirken auch die pse_325.013
Stimmung und das Weltbild, das ja doch als solches eine pse_325.014
Ganzheit ist, die Geschlossenheit des Kunstwerks. Die Stimmung pse_325.015
der Rätselhaftigkeit und Ausweglosigkeit hält eine pse_325.016
Erzählung Kafkas fest zusammen, die innere Unsicherheit pse_325.017
und Zerrissenheit des Helden gibt manchem modernen pse_325.018
Roman die Einheit.

pse_325.019
Die Wertung

pse_325.020
Damit berühren wir ein besonders schwieriges Kapitel der pse_325.021
Poetik. Wir haben schon einigemal vom Wert einer Dichtung pse_325.022
und von der Wertung im Rahmen der Dichtungslehre oder pse_325.023
gegenüber einer einzelnen Dichtung gesprochen. Wir haben pse_325.024
ausdrücklich ein erstes Mal auf diese Fragen hingewiesen, als pse_325.025
wir von den Wertungsmöglichkeiten sprachen, die sich aus pse_325.026
dem Weltbild einer Dichtung ergeben (S. 23 ff.). Was dort pse_325.027
gleich zu Anfang über Grundlegendes ganz kurz angedeutet pse_325.028
wurde, ist hier zu wiederholen. Damals haben wir uns nur pse_325.029
um die Werthaftigkeit gekümmert, die sich aus dem Weltbild pse_325.030
ergibt. Zugleich aber ist klar geworden, daß Wertung pse_325.031
vom Weltbild der Dichtung her zwar notwendig, zugleich pse_325.032
aber bedenklich ist, weil man gerade dadurch das Künstlerische, pse_325.033
die Gestaltung eben dieses Weltbildes, leicht vernachlässigt. pse_325.034
Jede Wertlehre der Dichtkunst setzt eine bestimmte pse_325.035
Theorie der Dichtung oder der Ästhetik überhaupt voraus. pse_325.036
Freilich hängt sie auch vom Stand der gesamten Wertphilosophie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0341" n="325"/><lb n="pse_325.001"/>
herauslösen, schafft sofort besonders günstige Grundlagen <lb n="pse_325.002"/>
für die Ganzheit einer Dichtung. Die einzelnen durchgehenden <lb n="pse_325.003"/>
Formungskräfte bilden auch an der Einheit; also <lb n="pse_325.004"/>
etwa das Vorherrschen bestimmter Stilzüge: das starke Vorherrschen <lb n="pse_325.005"/>
der Ausrufe und Anrufe, besonders in der drängenden <lb n="pse_325.006"/>
Form herausfordernder Fragen, bildet einen durchgehenden <lb n="pse_325.007"/>
Grundzug in Goethes »Prometheus«. Die besondere <lb n="pse_325.008"/>
Satzdynamik, die durch eine Kleistnovelle stürmt, bewirkt <lb n="pse_325.009"/>
den einheitlichen Guß des Kunstwerks. Die Schlußrahmung <lb n="pse_325.010"/>
in Grillparzers Lustspiel »Weh dem, der lügt!« gibt <lb n="pse_325.011"/>
der Abenteuerreihe im Inneren des Stückes ein klares Ziel und <lb n="pse_325.012"/>
rafft das Ganze kräftig zusammen. Endlich erwirken auch die <lb n="pse_325.013"/>
Stimmung und das Weltbild, das ja doch als solches eine <lb n="pse_325.014"/>
Ganzheit ist, die Geschlossenheit des Kunstwerks. Die Stimmung <lb n="pse_325.015"/>
der Rätselhaftigkeit und Ausweglosigkeit hält eine <lb n="pse_325.016"/>
Erzählung Kafkas fest zusammen, die innere Unsicherheit <lb n="pse_325.017"/>
und Zerrissenheit des Helden gibt manchem modernen <lb n="pse_325.018"/>
Roman die Einheit.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pse_325.019"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Die Wertung</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_325.020"/>
Damit berühren wir ein besonders schwieriges Kapitel der <lb n="pse_325.021"/>
Poetik. Wir haben schon einigemal vom Wert einer Dichtung <lb n="pse_325.022"/>
und von der Wertung im Rahmen der Dichtungslehre oder <lb n="pse_325.023"/>
gegenüber einer einzelnen Dichtung gesprochen. Wir haben <lb n="pse_325.024"/>
ausdrücklich ein erstes Mal auf diese Fragen hingewiesen, als <lb n="pse_325.025"/>
wir von den Wertungsmöglichkeiten sprachen, die sich aus <lb n="pse_325.026"/>
dem Weltbild einer Dichtung ergeben (S. 23 ff.). Was dort <lb n="pse_325.027"/>
gleich zu Anfang über Grundlegendes ganz kurz angedeutet <lb n="pse_325.028"/>
wurde, ist hier zu wiederholen. Damals haben wir uns nur <lb n="pse_325.029"/>
um die Werthaftigkeit gekümmert, die sich aus dem Weltbild <lb n="pse_325.030"/>
ergibt. Zugleich aber ist klar geworden, daß Wertung <lb n="pse_325.031"/>
vom Weltbild der Dichtung her zwar notwendig, zugleich <lb n="pse_325.032"/>
aber bedenklich ist, weil man gerade dadurch das Künstlerische, <lb n="pse_325.033"/>
die Gestaltung eben dieses Weltbildes, leicht vernachlässigt. <lb n="pse_325.034"/>
Jede Wertlehre der Dichtkunst setzt eine bestimmte <lb n="pse_325.035"/>
Theorie der Dichtung oder der Ästhetik überhaupt voraus. <lb n="pse_325.036"/>
Freilich hängt sie auch vom Stand der gesamten Wertphilosophie
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0341] pse_325.001 herauslösen, schafft sofort besonders günstige Grundlagen pse_325.002 für die Ganzheit einer Dichtung. Die einzelnen durchgehenden pse_325.003 Formungskräfte bilden auch an der Einheit; also pse_325.004 etwa das Vorherrschen bestimmter Stilzüge: das starke Vorherrschen pse_325.005 der Ausrufe und Anrufe, besonders in der drängenden pse_325.006 Form herausfordernder Fragen, bildet einen durchgehenden pse_325.007 Grundzug in Goethes »Prometheus«. Die besondere pse_325.008 Satzdynamik, die durch eine Kleistnovelle stürmt, bewirkt pse_325.009 den einheitlichen Guß des Kunstwerks. Die Schlußrahmung pse_325.010 in Grillparzers Lustspiel »Weh dem, der lügt!« gibt pse_325.011 der Abenteuerreihe im Inneren des Stückes ein klares Ziel und pse_325.012 rafft das Ganze kräftig zusammen. Endlich erwirken auch die pse_325.013 Stimmung und das Weltbild, das ja doch als solches eine pse_325.014 Ganzheit ist, die Geschlossenheit des Kunstwerks. Die Stimmung pse_325.015 der Rätselhaftigkeit und Ausweglosigkeit hält eine pse_325.016 Erzählung Kafkas fest zusammen, die innere Unsicherheit pse_325.017 und Zerrissenheit des Helden gibt manchem modernen pse_325.018 Roman die Einheit. pse_325.019 Die Wertung pse_325.020 Damit berühren wir ein besonders schwieriges Kapitel der pse_325.021 Poetik. Wir haben schon einigemal vom Wert einer Dichtung pse_325.022 und von der Wertung im Rahmen der Dichtungslehre oder pse_325.023 gegenüber einer einzelnen Dichtung gesprochen. Wir haben pse_325.024 ausdrücklich ein erstes Mal auf diese Fragen hingewiesen, als pse_325.025 wir von den Wertungsmöglichkeiten sprachen, die sich aus pse_325.026 dem Weltbild einer Dichtung ergeben (S. 23 ff.). Was dort pse_325.027 gleich zu Anfang über Grundlegendes ganz kurz angedeutet pse_325.028 wurde, ist hier zu wiederholen. Damals haben wir uns nur pse_325.029 um die Werthaftigkeit gekümmert, die sich aus dem Weltbild pse_325.030 ergibt. Zugleich aber ist klar geworden, daß Wertung pse_325.031 vom Weltbild der Dichtung her zwar notwendig, zugleich pse_325.032 aber bedenklich ist, weil man gerade dadurch das Künstlerische, pse_325.033 die Gestaltung eben dieses Weltbildes, leicht vernachlässigt. pse_325.034 Jede Wertlehre der Dichtkunst setzt eine bestimmte pse_325.035 Theorie der Dichtung oder der Ästhetik überhaupt voraus. pse_325.036 Freilich hängt sie auch vom Stand der gesamten Wertphilosophie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/341
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/341>, abgerufen am 22.11.2024.