Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_324.001
dieser Gestaltung immer tiefer, läßt immer wesentlichere Zusammenhänge pse_324.002
auch in den einzelnen konkreten Zügen aufleuchten, pse_324.003
bis endlich diese in der Dichtung gestaltete Welt pse_324.004
auch ihre tiefsten Geheimnisse ahnen läßt, bis von innen heraus pse_324.005
diese Welt erhellt wird. Dabei muß Erhellung nicht immer pse_324.006
bloß Enträtselung heißen, eine Erhellung kann auch pse_324.007
darin bestehen, daß wir die Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit pse_324.008
der Welt als ihr Wesentliches für uns Menschen erleben. pse_324.009
Die Hauptsache bleibt für die Dichtung immer nur, daß diese pse_324.010
Erhellung durch keine anderen Mittel ermöglicht wird als pse_324.011
allein durch die künstlerischen Kräfte, die einer Dichtung pse_324.012
gegeben sind und die wir immer wieder in ihrer Fülle und pse_324.013
zugleich Funktion aufgezeigt haben.

pse_324.014
Die Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit, Weltfülle, Vielstimmigkeit pse_324.015
und Tiefenschichtung der Dichtung drängt uns nochmals pse_324.016
zur Frage, wie nun trotzdem eine Ganzheit entsteht. pse_324.017
Wir fassen in anderen Zusammenhängen schon Gesagtes zu pse_324.018
diesem Zwecke zusammen. Eine erste schließende Kraft ist pse_324.019
bereits die Tatsache der Formung selbst. Schon daß Dichtung pse_324.020
ein Sprachwerk ist, hebt sie ja als Gebilde deutlich von allem pse_324.021
anderen ab, eben als sprachlich Geformtes. Zugleich aber wird pse_324.022
in jeder einzelnen Dichtung etwas Menschliches, Seelisches pse_324.023
durch die weltschaffende Kraft der Sprachkunst in einen pse_324.024
neuen, für sich selbst bestehenden Bereich gehoben und für pse_324.025
sich von allen übrigen Bezügen zum Schöpfer entfernt: ein pse_324.026
Gebilde für sich, das aus eigener Kraft nun in die Tiefe führt. pse_324.027
Die Einheit wird auch durch Auslese und Begrenzung errungen: pse_324.028
die außersprachliche Wirklichkeit wird nur in ganz pse_324.029
bestimmten Ausschnitten in Dichtung übergeführt und in pse_324.030
ihr umgeformt. Diese Begrenzung schließt alles aus, was die pse_324.031
Ganzheit gefährden könnte. Dabei muß die Disparatheit von pse_324.032
Weltstoff in einer Dichtung nicht zu jeder Zeit in gleicher pse_324.033
Weise die Ganzheit gefährden. Begrenzung und Auslese pse_324.034
führen zugleich zu einer Verdichtung des Gestalteten, mithin pse_324.035
zu einer Schließung zur Gesamtgestalt. Daß Auslese, pse_324.036
Begrenzung und Verdichtung allein schon durch die Sprache pse_324.037
jederzeit geleistet wird, indem ja ursprünglich die Worte pse_324.038
Erfahrungsstücke aus bestimmter Einstellung zu ihnen umgrenzend

pse_324.001
dieser Gestaltung immer tiefer, läßt immer wesentlichere Zusammenhänge pse_324.002
auch in den einzelnen konkreten Zügen aufleuchten, pse_324.003
bis endlich diese in der Dichtung gestaltete Welt pse_324.004
auch ihre tiefsten Geheimnisse ahnen läßt, bis von innen heraus pse_324.005
diese Welt erhellt wird. Dabei muß Erhellung nicht immer pse_324.006
bloß Enträtselung heißen, eine Erhellung kann auch pse_324.007
darin bestehen, daß wir die Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit pse_324.008
der Welt als ihr Wesentliches für uns Menschen erleben. pse_324.009
Die Hauptsache bleibt für die Dichtung immer nur, daß diese pse_324.010
Erhellung durch keine anderen Mittel ermöglicht wird als pse_324.011
allein durch die künstlerischen Kräfte, die einer Dichtung pse_324.012
gegeben sind und die wir immer wieder in ihrer Fülle und pse_324.013
zugleich Funktion aufgezeigt haben.

pse_324.014
Die Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit, Weltfülle, Vielstimmigkeit pse_324.015
und Tiefenschichtung der Dichtung drängt uns nochmals pse_324.016
zur Frage, wie nun trotzdem eine Ganzheit entsteht. pse_324.017
Wir fassen in anderen Zusammenhängen schon Gesagtes zu pse_324.018
diesem Zwecke zusammen. Eine erste schließende Kraft ist pse_324.019
bereits die Tatsache der Formung selbst. Schon daß Dichtung pse_324.020
ein Sprachwerk ist, hebt sie ja als Gebilde deutlich von allem pse_324.021
anderen ab, eben als sprachlich Geformtes. Zugleich aber wird pse_324.022
in jeder einzelnen Dichtung etwas Menschliches, Seelisches pse_324.023
durch die weltschaffende Kraft der Sprachkunst in einen pse_324.024
neuen, für sich selbst bestehenden Bereich gehoben und für pse_324.025
sich von allen übrigen Bezügen zum Schöpfer entfernt: ein pse_324.026
Gebilde für sich, das aus eigener Kraft nun in die Tiefe führt. pse_324.027
Die Einheit wird auch durch Auslese und Begrenzung errungen: pse_324.028
die außersprachliche Wirklichkeit wird nur in ganz pse_324.029
bestimmten Ausschnitten in Dichtung übergeführt und in pse_324.030
ihr umgeformt. Diese Begrenzung schließt alles aus, was die pse_324.031
Ganzheit gefährden könnte. Dabei muß die Disparatheit von pse_324.032
Weltstoff in einer Dichtung nicht zu jeder Zeit in gleicher pse_324.033
Weise die Ganzheit gefährden. Begrenzung und Auslese pse_324.034
führen zugleich zu einer Verdichtung des Gestalteten, mithin pse_324.035
zu einer Schließung zur Gesamtgestalt. Daß Auslese, pse_324.036
Begrenzung und Verdichtung allein schon durch die Sprache pse_324.037
jederzeit geleistet wird, indem ja ursprünglich die Worte pse_324.038
Erfahrungsstücke aus bestimmter Einstellung zu ihnen umgrenzend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0340" n="324"/><lb n="pse_324.001"/>
dieser Gestaltung immer tiefer, läßt immer wesentlichere Zusammenhänge <lb n="pse_324.002"/>
auch in den einzelnen konkreten Zügen aufleuchten, <lb n="pse_324.003"/>
bis endlich diese in der Dichtung gestaltete Welt <lb n="pse_324.004"/>
auch ihre tiefsten Geheimnisse ahnen läßt, bis von innen heraus <lb n="pse_324.005"/>
diese Welt erhellt wird. Dabei muß Erhellung nicht immer <lb n="pse_324.006"/>
bloß Enträtselung heißen, eine Erhellung kann auch <lb n="pse_324.007"/>
darin bestehen, daß wir die Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit <lb n="pse_324.008"/>
der Welt als ihr Wesentliches für uns Menschen erleben. <lb n="pse_324.009"/>
Die Hauptsache bleibt für die Dichtung immer nur, daß diese <lb n="pse_324.010"/>
Erhellung durch keine anderen Mittel ermöglicht wird als <lb n="pse_324.011"/>
allein durch die künstlerischen Kräfte, die einer Dichtung <lb n="pse_324.012"/>
gegeben sind und die wir immer wieder in ihrer Fülle und <lb n="pse_324.013"/>
zugleich Funktion aufgezeigt haben.</p>
            <p><lb n="pse_324.014"/>
Die Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit, Weltfülle, Vielstimmigkeit <lb n="pse_324.015"/>
und Tiefenschichtung der Dichtung drängt uns nochmals <lb n="pse_324.016"/>
zur Frage, wie nun trotzdem eine <hi rendition="#i">Ganzheit</hi> entsteht. <lb n="pse_324.017"/>
Wir fassen in anderen Zusammenhängen schon Gesagtes zu <lb n="pse_324.018"/>
diesem Zwecke zusammen. Eine erste schließende Kraft ist <lb n="pse_324.019"/>
bereits die Tatsache der Formung selbst. Schon daß Dichtung <lb n="pse_324.020"/>
ein Sprachwerk ist, hebt sie ja als Gebilde deutlich von allem <lb n="pse_324.021"/>
anderen ab, eben als sprachlich Geformtes. Zugleich aber wird <lb n="pse_324.022"/>
in jeder einzelnen Dichtung etwas Menschliches, Seelisches <lb n="pse_324.023"/>
durch die weltschaffende Kraft der Sprachkunst in einen <lb n="pse_324.024"/>
neuen, für sich selbst bestehenden Bereich gehoben und für <lb n="pse_324.025"/>
sich von allen übrigen Bezügen zum Schöpfer entfernt: ein <lb n="pse_324.026"/>
Gebilde für sich, das aus eigener Kraft nun in die Tiefe führt. <lb n="pse_324.027"/>
Die Einheit wird auch durch Auslese und Begrenzung errungen: <lb n="pse_324.028"/>
die außersprachliche Wirklichkeit wird nur in ganz <lb n="pse_324.029"/>
bestimmten Ausschnitten in Dichtung übergeführt und in <lb n="pse_324.030"/>
ihr umgeformt. Diese Begrenzung schließt alles aus, was die <lb n="pse_324.031"/>
Ganzheit gefährden könnte. Dabei muß die Disparatheit von <lb n="pse_324.032"/>
Weltstoff in einer Dichtung nicht zu jeder Zeit in gleicher <lb n="pse_324.033"/>
Weise die Ganzheit gefährden. Begrenzung und Auslese <lb n="pse_324.034"/>
führen zugleich zu einer Verdichtung des Gestalteten, mithin <lb n="pse_324.035"/>
zu einer Schließung zur Gesamtgestalt. Daß Auslese, <lb n="pse_324.036"/>
Begrenzung und Verdichtung allein schon durch die Sprache <lb n="pse_324.037"/>
jederzeit geleistet wird, indem ja ursprünglich die Worte <lb n="pse_324.038"/>
Erfahrungsstücke aus bestimmter Einstellung zu ihnen umgrenzend
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0340] pse_324.001 dieser Gestaltung immer tiefer, läßt immer wesentlichere Zusammenhänge pse_324.002 auch in den einzelnen konkreten Zügen aufleuchten, pse_324.003 bis endlich diese in der Dichtung gestaltete Welt pse_324.004 auch ihre tiefsten Geheimnisse ahnen läßt, bis von innen heraus pse_324.005 diese Welt erhellt wird. Dabei muß Erhellung nicht immer pse_324.006 bloß Enträtselung heißen, eine Erhellung kann auch pse_324.007 darin bestehen, daß wir die Rätselhaftigkeit und Abgründigkeit pse_324.008 der Welt als ihr Wesentliches für uns Menschen erleben. pse_324.009 Die Hauptsache bleibt für die Dichtung immer nur, daß diese pse_324.010 Erhellung durch keine anderen Mittel ermöglicht wird als pse_324.011 allein durch die künstlerischen Kräfte, die einer Dichtung pse_324.012 gegeben sind und die wir immer wieder in ihrer Fülle und pse_324.013 zugleich Funktion aufgezeigt haben. pse_324.014 Die Vielseitigkeit, Vielgestaltigkeit, Weltfülle, Vielstimmigkeit pse_324.015 und Tiefenschichtung der Dichtung drängt uns nochmals pse_324.016 zur Frage, wie nun trotzdem eine Ganzheit entsteht. pse_324.017 Wir fassen in anderen Zusammenhängen schon Gesagtes zu pse_324.018 diesem Zwecke zusammen. Eine erste schließende Kraft ist pse_324.019 bereits die Tatsache der Formung selbst. Schon daß Dichtung pse_324.020 ein Sprachwerk ist, hebt sie ja als Gebilde deutlich von allem pse_324.021 anderen ab, eben als sprachlich Geformtes. Zugleich aber wird pse_324.022 in jeder einzelnen Dichtung etwas Menschliches, Seelisches pse_324.023 durch die weltschaffende Kraft der Sprachkunst in einen pse_324.024 neuen, für sich selbst bestehenden Bereich gehoben und für pse_324.025 sich von allen übrigen Bezügen zum Schöpfer entfernt: ein pse_324.026 Gebilde für sich, das aus eigener Kraft nun in die Tiefe führt. pse_324.027 Die Einheit wird auch durch Auslese und Begrenzung errungen: pse_324.028 die außersprachliche Wirklichkeit wird nur in ganz pse_324.029 bestimmten Ausschnitten in Dichtung übergeführt und in pse_324.030 ihr umgeformt. Diese Begrenzung schließt alles aus, was die pse_324.031 Ganzheit gefährden könnte. Dabei muß die Disparatheit von pse_324.032 Weltstoff in einer Dichtung nicht zu jeder Zeit in gleicher pse_324.033 Weise die Ganzheit gefährden. Begrenzung und Auslese pse_324.034 führen zugleich zu einer Verdichtung des Gestalteten, mithin pse_324.035 zu einer Schließung zur Gesamtgestalt. Daß Auslese, pse_324.036 Begrenzung und Verdichtung allein schon durch die Sprache pse_324.037 jederzeit geleistet wird, indem ja ursprünglich die Worte pse_324.038 Erfahrungsstücke aus bestimmter Einstellung zu ihnen umgrenzend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/340
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/340>, abgerufen am 13.05.2024.