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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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ab. Da es beim Werten nie um eine rein theoretisch pse_326.002
feststellende Haltung allein geht, ist es verständlich, pse_326.003
daß die wertende Betrachtung der Dichtungen verschiedene pse_326.004
Schwankungen durchgemacht hat. Die geschichtliche Betrachtung pse_326.005
der Dichtung hat sich vielfach gar nicht mit Wertfragen pse_326.006
abgegeben, oder es waren rein persönliche Wertschätzungen, pse_326.007
ohne sie eigentlich zu beabsichtigen. Erst vor pse_326.008
etwa 40 Jahren beginnt man sich intensiver auch in der Wissenschaft pse_326.009
mit der Wertfrage in bezug auf die Dichtung und pse_326.010
auf die Kunst überhaupt abzugeben. Zunächst fehlte es diesen pse_326.011
Betrachtungen aber an der einfachen Überlegung, was Wert pse_326.012
überhaupt ist, und an der Unterscheidung zwischen sachlicher pse_326.013
Beschaffenheit und Wert einer Dichtung.

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Den Weg zum Wert findet man nur über das Werterleben, pse_326.015
über die ganz konkrete persönliche Werterfahrung. Beim pse_326.016
Werterleben ist das Gefühl entscheidend. Werterleben stellt pse_326.017
sich immer dann ein, wenn unser Gefühl unmittelbar auf das pse_326.018
Entgegentretende antwortet, und zwar in zweifacher Hinsicht pse_326.019
in besonderer Weise: es ist damit ein Erleben des Seinsollens pse_326.020
gegeben, man erfährt irgendwie die innere Stimme, pse_326.021
das als wertvoll erleben zu sollen. Zugleich ist damit eine pse_326.022
bestimmte Erfahrung von Kraft und Tiefe verbunden.

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Das, was am Gegenstand uns dieses Erleben auslöst, ist der pse_326.024
Wert. Er ist nicht ein konkretes Merkmal am Gegenstand. Aber pse_326.025
daß er eine "Wirklichkeit", d. h. etwas Wirkendes und damit etwas pse_326.026
Existierendes ist, ist eine Erfahrungsgewißheit. Schon daß pse_326.027
man über Werte spricht, ist ein Beweis, daß es eine Bewandtnis pse_326.028
mit ihm hat. Werte sind etwas an sich; das Bewußtsein pse_326.029
kann sie nicht schaffen, nur erfassen oder verfehlen. Der pse_326.030
Wert ist immer da, bevor er erlebt wird. Daß man sich in pse_326.031
bezug auf ihn täuschen kann, ist wieder ein Beweis für sein pse_326.032
Dasein. Der Gegenstand, an dem wir das Werterleben haben, pse_326.033
der uns wertvoll ist, ist der Wertträger oder das Gut.

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Wichtig ist nun der nächste Schritt: es gibt verschiedene pse_326.035
Klassen von Werten. Der Unterschied der einzelnen Wertklassen pse_326.036
ist uns wieder durch Werterfahrung unmittelbar pse_326.037
gegeben und daraus theoretisch beschreibbar. Einer davon ist pse_326.038
der ästhetische Wert. Soweit er durch sprachliche Werke ausgelöst

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ab. Da es beim Werten nie um eine rein theoretisch pse_326.002
feststellende Haltung allein geht, ist es verständlich, pse_326.003
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Schwankungen durchgemacht hat. Die geschichtliche Betrachtung pse_326.005
der Dichtung hat sich vielfach gar nicht mit Wertfragen pse_326.006
abgegeben, oder es waren rein persönliche Wertschätzungen, pse_326.007
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Betrachtungen aber an der einfachen Überlegung, was Wert pse_326.012
überhaupt ist, und an der Unterscheidung zwischen sachlicher pse_326.013
Beschaffenheit und Wert einer Dichtung.

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Den Weg zum Wert findet man nur über das Werterleben, pse_326.015
über die ganz konkrete persönliche Werterfahrung. Beim pse_326.016
Werterleben ist das Gefühl entscheidend. Werterleben stellt pse_326.017
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gegeben, man erfährt irgendwie die innere Stimme, pse_326.021
das als wertvoll erleben zu sollen. Zugleich ist damit eine pse_326.022
bestimmte Erfahrung von Kraft und Tiefe verbunden.

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Das, was am Gegenstand uns dieses Erleben auslöst, ist der pse_326.024
Wert. Er ist nicht ein konkretes Merkmal am Gegenstand. Aber pse_326.025
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Existierendes ist, ist eine Erfahrungsgewißheit. Schon daß pse_326.027
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bezug auf ihn täuschen kann, ist wieder ein Beweis für sein pse_326.032
Dasein. Der Gegenstand, an dem wir das Werterleben haben, pse_326.033
der uns wertvoll ist, ist der Wertträger oder das Gut.

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Wichtig ist nun der nächste Schritt: es gibt verschiedene pse_326.035
Klassen von Werten. Der Unterschied der einzelnen Wertklassen pse_326.036
ist uns wieder durch Werterfahrung unmittelbar pse_326.037
gegeben und daraus theoretisch beschreibbar. Einer davon ist pse_326.038
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[326/0342] pse_326.001 ab. Da es beim Werten nie um eine rein theoretisch pse_326.002 feststellende Haltung allein geht, ist es verständlich, pse_326.003 daß die wertende Betrachtung der Dichtungen verschiedene pse_326.004 Schwankungen durchgemacht hat. Die geschichtliche Betrachtung pse_326.005 der Dichtung hat sich vielfach gar nicht mit Wertfragen pse_326.006 abgegeben, oder es waren rein persönliche Wertschätzungen, pse_326.007 ohne sie eigentlich zu beabsichtigen. Erst vor pse_326.008 etwa 40 Jahren beginnt man sich intensiver auch in der Wissenschaft pse_326.009 mit der Wertfrage in bezug auf die Dichtung und pse_326.010 auf die Kunst überhaupt abzugeben. Zunächst fehlte es diesen pse_326.011 Betrachtungen aber an der einfachen Überlegung, was Wert pse_326.012 überhaupt ist, und an der Unterscheidung zwischen sachlicher pse_326.013 Beschaffenheit und Wert einer Dichtung. pse_326.014 Den Weg zum Wert findet man nur über das Werterleben, pse_326.015 über die ganz konkrete persönliche Werterfahrung. Beim pse_326.016 Werterleben ist das Gefühl entscheidend. Werterleben stellt pse_326.017 sich immer dann ein, wenn unser Gefühl unmittelbar auf das pse_326.018 Entgegentretende antwortet, und zwar in zweifacher Hinsicht pse_326.019 in besonderer Weise: es ist damit ein Erleben des Seinsollens pse_326.020 gegeben, man erfährt irgendwie die innere Stimme, pse_326.021 das als wertvoll erleben zu sollen. Zugleich ist damit eine pse_326.022 bestimmte Erfahrung von Kraft und Tiefe verbunden. pse_326.023 Das, was am Gegenstand uns dieses Erleben auslöst, ist der pse_326.024 Wert. Er ist nicht ein konkretes Merkmal am Gegenstand. Aber pse_326.025 daß er eine »Wirklichkeit«, d. h. etwas Wirkendes und damit etwas pse_326.026 Existierendes ist, ist eine Erfahrungsgewißheit. Schon daß pse_326.027 man über Werte spricht, ist ein Beweis, daß es eine Bewandtnis pse_326.028 mit ihm hat. Werte sind etwas an sich; das Bewußtsein pse_326.029 kann sie nicht schaffen, nur erfassen oder verfehlen. Der pse_326.030 Wert ist immer da, bevor er erlebt wird. Daß man sich in pse_326.031 bezug auf ihn täuschen kann, ist wieder ein Beweis für sein pse_326.032 Dasein. Der Gegenstand, an dem wir das Werterleben haben, pse_326.033 der uns wertvoll ist, ist der Wertträger oder das Gut. pse_326.034 Wichtig ist nun der nächste Schritt: es gibt verschiedene pse_326.035 Klassen von Werten. Der Unterschied der einzelnen Wertklassen pse_326.036 ist uns wieder durch Werterfahrung unmittelbar pse_326.037 gegeben und daraus theoretisch beschreibbar. Einer davon ist pse_326.038 der ästhetische Wert. Soweit er durch sprachliche Werke ausgelöst

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/342>, abgerufen am 14.05.2024.