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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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für die künstlerische Gestaltung des Erhabenen bietet pse_290.002
besonders Schillers "Macht des Gesanges". Abgesehen vom pse_290.003
Stil ist hier die weitgespannte architektonische Bewegung pse_290.004
wichtig, die z. B. über Strophe drei und vier in einer großen pse_290.005
Steigerung und Senkung führt:

pse_290.006
Wie wenn auf einmal in die Kreise pse_290.007
Der Freude, mit Gigantenschritt, pse_290.008
Geheimnisvoll nach Geisterweise pse_290.009
Ein ungeheures Schicksal tritt. pse_290.010
Da beugt sich jede Erdengröße pse_290.011
Dem Fremdling aus der andern Welt, pse_290.012
Des Jubels nichtiges Getöse pse_290.013
Verstummt, und jede Larve fällt, pse_290.014
Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege pse_290.015
Verschwindet jedes Werk der Lüge.
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So rafft von jeder eitlen Bürde, pse_290.017
Wenn des Gesanges Ruf erschallt, pse_290.018
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pse_290.019
Und tritt in heilige Gewalt; pse_290.020
Den hohen Göttern ist er eigen, pse_290.021
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn, pse_290.022
Und jede andre Macht muß schweigen, pse_290.023
Und kein Verhängnis fällt ihn an, pse_290.024
Es schwinden jedes Kummers Falten, pse_290.025
Solang des Liedes Zauber walten.
pse_290.026

Das Erhabene formt sich nicht nur in solcher mächtigen pse_290.027
rhythmischen Fortbewegung aus, sondern auch in Starrheit. pse_290.028
Die sprachlichen Züge aber bleiben erhalten. Im Barock pse_290.029
finden wir solche Gestaltung.

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Das Erhabene als Gestaltungsebene kann auch eine Grundlage pse_290.031
für die Entfaltung des Tragischen sein. Gewiß ist Tragisches pse_290.032
bis zu einem gewissen Grade auch auf der Ebene des pse_290.033
Derben möglich, nie aber auf der mittleren Ebene, weil sie der pse_290.034
tiefen Erschütterung, die im Wesen des Tragischen liegt, pse_290.035
völlig entgegensteht.

pse_290.036
Weitere dichterische Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir pse_290.037
die Beziehungen zwischen den Gestaltungsebenen betrachten. pse_290.038
Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: reine Durchführung pse_290.039
einer Dichtung auf einer Ebene oder Wechsel pse_290.040
mehrerer Ebenen. Diese Formen sind wichtiger als Misch- pse_290.041
und Übergangsformen, denn es lassen sich Übergänge vom

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besonders Schillers »Macht des Gesanges«. Abgesehen vom pse_290.003
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völlig entgegensteht.

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Weitere dichterische Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir pse_290.037
die Beziehungen zwischen den Gestaltungsebenen betrachten. pse_290.038
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[290/0306] pse_290.001 für die künstlerische Gestaltung des Erhabenen bietet pse_290.002 besonders Schillers »Macht des Gesanges«. Abgesehen vom pse_290.003 Stil ist hier die weitgespannte architektonische Bewegung pse_290.004 wichtig, die z. B. über Strophe drei und vier in einer großen pse_290.005 Steigerung und Senkung führt: pse_290.006 Wie wenn auf einmal in die Kreise pse_290.007 Der Freude, mit Gigantenschritt, pse_290.008 Geheimnisvoll nach Geisterweise pse_290.009 Ein ungeheures Schicksal tritt. pse_290.010 Da beugt sich jede Erdengröße pse_290.011 Dem Fremdling aus der andern Welt, pse_290.012 Des Jubels nichtiges Getöse pse_290.013 Verstummt, und jede Larve fällt, pse_290.014 Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege pse_290.015 Verschwindet jedes Werk der Lüge. pse_290.016 So rafft von jeder eitlen Bürde, pse_290.017 Wenn des Gesanges Ruf erschallt, pse_290.018 Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pse_290.019 Und tritt in heilige Gewalt; pse_290.020 Den hohen Göttern ist er eigen, pse_290.021 Ihm darf nichts Irdisches sich nahn, pse_290.022 Und jede andre Macht muß schweigen, pse_290.023 Und kein Verhängnis fällt ihn an, pse_290.024 Es schwinden jedes Kummers Falten, pse_290.025 Solang des Liedes Zauber walten. pse_290.026 Das Erhabene formt sich nicht nur in solcher mächtigen pse_290.027 rhythmischen Fortbewegung aus, sondern auch in Starrheit. pse_290.028 Die sprachlichen Züge aber bleiben erhalten. Im Barock pse_290.029 finden wir solche Gestaltung. pse_290.030 Das Erhabene als Gestaltungsebene kann auch eine Grundlage pse_290.031 für die Entfaltung des Tragischen sein. Gewiß ist Tragisches pse_290.032 bis zu einem gewissen Grade auch auf der Ebene des pse_290.033 Derben möglich, nie aber auf der mittleren Ebene, weil sie der pse_290.034 tiefen Erschütterung, die im Wesen des Tragischen liegt, pse_290.035 völlig entgegensteht. pse_290.036 Weitere dichterische Möglichkeiten ergeben sich, wenn wir pse_290.037 die Beziehungen zwischen den Gestaltungsebenen betrachten. pse_290.038 Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: reine Durchführung pse_290.039 einer Dichtung auf einer Ebene oder Wechsel pse_290.040 mehrerer Ebenen. Diese Formen sind wichtiger als Misch- pse_290.041 und Übergangsformen, denn es lassen sich Übergänge vom

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/306>, abgerufen am 25.11.2024.