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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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In der zweiten Strophe erkennt man, wie zunächst im ersten pse_289.002
und dritten Vers die Möglichkeit des Aufstiegs in eine höhere pse_289.003
Ebene auftaucht, aber die Verse zwei und vier stellen die pse_289.004
Stimmung der Anmut wieder her, nur jetzt leicht vertieft. pse_289.005
Auch die dichterische Prosa ist durchaus möglich auf dieser pse_289.006
Ebene. Besonders Eichendorff böte Beispiele die Fülle. Nur pse_289.007
eins: "Ich aber mußte am Ende laut auflachen und war herzlich pse_289.008
froh, den superklugen Gesellen los zu sein, denn es war pse_289.009
gerade die Zeit, wo ich den Blumenstrauß immer in die pse_289.010
Laube zu legen pflegte." (Aus dem Leben eines Taugenichts). pse_289.011
Das Anmutige kann in den Unwert hinübergleiten: durch pse_289.012
Übertreibung entsteht das Aufgeblasene, etwa der Ausdruck pse_289.013
"engelhafte Jungfrauen". Durch die Überspannung einer bestimmten pse_289.014
Gefühlsnuance entsteht der Kitsch. In ihn geraten pse_289.015
wir schon durch kleinste Änderungen im Wort; man denke pse_289.016
an den Stimmungswandel von "weich" zu "weichlich", von pse_289.017
"süß" zu "süßlich". Ich verweise auf den Bechstein-Satz, den pse_289.018
wir schon kennen: "... wo das süße Dornröschen lag, hehr pse_289.019
umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld." Auch alles pse_289.020
Angestrengte, Gemachte, Gespannte ist dem Anmutigen pse_289.021
feindlich. Darum wirkt G. Kellers Ausdruck von der angestrengten pse_289.022
Anmut so komisch. Der Schein der Anmut, bewußt pse_289.023
erstrebt, führt zu Affektation, im Weiblichen zu Koketterie.

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Das Anmutige ist nur ein kleiner Bereich der mittleren Gestaltungsebene; pse_289.025
ein anderer, nahe verwandter ist der Humor. pse_289.026
Auch diese Gestaltungsform entspricht einer bestimmten pse_289.027
Welterfassung. Aber nicht jeder Humor muß auf dieser Ebene pse_289.028
liegen, es gibt einen derben, wie oft bei Shakespeare, auch pse_289.029
einen erhabenen wie bei Jean Paul. Doch das Heitere in seiner pse_289.030
Art gehört rein dazu.

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Die erhabene Gestaltungsebene ist ebenfalls reich an Möglichkeiten. pse_289.032
Grundlegend für die Ausgestaltung des Erhabenen ist pse_289.033
der Zug des Menschen zum Großen, zum Überlegenen. Die pse_289.034
Gestaltung des Erhabenen erwächst aus der Haltung, die wir pse_289.035
bei der dichterischen Weltauffassung besprochen haben pse_289.036
(S. 97 f.). Sie prägt sich natürlich in allen sprachkünstlerischen pse_289.037
Möglichkeiten aus, aber auch im weitgeschwungenen Bau, pse_289.038
der in großen Auf- und Ab-Bewegungen verläuft. Ein Beispiel

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froh, den superklugen Gesellen los zu sein, denn es war pse_289.009
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Das Anmutige kann in den Unwert hinübergleiten: durch pse_289.012
Übertreibung entsteht das Aufgeblasene, etwa der Ausdruck pse_289.013
»engelhafte Jungfrauen«. Durch die Überspannung einer bestimmten pse_289.014
Gefühlsnuance entsteht der Kitsch. In ihn geraten pse_289.015
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»süß« zu »süßlich«. Ich verweise auf den Bechstein-Satz, den pse_289.018
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umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld.« Auch alles pse_289.020
Angestrengte, Gemachte, Gespannte ist dem Anmutigen pse_289.021
feindlich. Darum wirkt G. Kellers Ausdruck von der angestrengten pse_289.022
Anmut so komisch. Der Schein der Anmut, bewußt pse_289.023
erstrebt, führt zu Affektation, im Weiblichen zu Koketterie.

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Das Anmutige ist nur ein kleiner Bereich der mittleren Gestaltungsebene; pse_289.025
ein anderer, nahe verwandter ist der Humor. pse_289.026
Auch diese Gestaltungsform entspricht einer bestimmten pse_289.027
Welterfassung. Aber nicht jeder Humor muß auf dieser Ebene pse_289.028
liegen, es gibt einen derben, wie oft bei Shakespeare, auch pse_289.029
einen erhabenen wie bei Jean Paul. Doch das Heitere in seiner pse_289.030
Art gehört rein dazu.

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Die erhabene Gestaltungsebene ist ebenfalls reich an Möglichkeiten. pse_289.032
Grundlegend für die Ausgestaltung des Erhabenen ist pse_289.033
der Zug des Menschen zum Großen, zum Überlegenen. Die pse_289.034
Gestaltung des Erhabenen erwächst aus der Haltung, die wir pse_289.035
bei der dichterischen Weltauffassung besprochen haben pse_289.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/305>, abgerufen am 22.11.2024.