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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Fritz Reuters oder an die Lyrik von Klaus Groth --, pse_287.002
aber wenn sie es tut, dann kann der sozial-proletenhafte Ton pse_287.003
auch fehlen und nur die Naturwüchsigkeit des Naturkindes pse_287.004
gestaltet werden. Also schon hier in der derben Gestaltungsebene pse_287.005
wird deutlich, daß es verschiedene Schattierungen gibt. pse_287.006
Das Gemeinsame bleibt die Nähe zur unteren Wirklichkeit, pse_287.007
zum Groben, und die derbe Kraft der sprachlichen Bilder. pse_287.008
Dabei ergibt sich auch klar, was betont sei, daß diese Stilebene pse_287.009
nichts mit dem genus humile der antiken Theoretiker zu tun pse_287.010
hat.

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Die mittlere Gestaltungsebene umfaßt einen weiten Bereich, pse_287.012
auch wenn wir hier nur die Dichtung und was mit solchem pse_287.013
Anspruch auftritt, berücksichtigen. Wenn wir diese Ebene pse_287.014
von der nächsten abheben, so ergibt sich eine gewisse gruppierende pse_287.015
Übersicht. Zunächst umfaßt sie alles Alltägliche, pse_287.016
Gewöhnliche, Neutrale. Wir können dazu das gesamte pse_287.017
Unterhaltungsschrifttum aller Art rechnen. Denn im Wortsinn pse_287.018
von Unterhaltung liegt auch schon eine Entfernung vom pse_287.019
Derben der unteren Wirklichkeit. Ferner rechnen wir dazu pse_287.020
das Leichte, Kleine, Unbedeutende, also z. B. Gedichte der pse_287.021
geringen Wirkung, lockere und leichte Erzählungen. Künstlerisch pse_287.022
wichtig ist in diesem Bereich das Anmutige. Wir pse_287.023
können es zunächst in seinen Spielarten umreißen: das pse_287.024
Reizende, das Liebliche, das Graziöse und das Amüsante, pse_287.025
jedes unterscheidet sich leicht vom anderen: im Reizenden pse_287.026
liegt das leichte Gefallen, das nicht tief geht, das Liebliche pse_287.027
spricht schon tiefere Gefühlsschichten an; das Graziöse ist pse_287.028
durch eine Art des Spielerischen in der Bewegung gekennzeichnet, pse_287.029
im Amüsanten steckt etwas auf die Gesellschaft Bezügliches, pse_287.030
etwas schon Lockeres, das aber durch Grazie umhüllt pse_287.031
wird. Das Anmutige liegt nicht so sehr in der Tiefe, gibt pse_287.032
keine Rätsel auf und läßt keine hohen Geheimnisse ahnen. Es pse_287.033
spricht durch die gefällige, glatte Form an und durch die pse_287.034
Natürlichkeit des Gehalts. Die Wirklichkeit, die in die pse_287.035
Dichtung hereingenommen wird, ist streng ausgewählt: pse_287.036
alles Schwere, Hohe oder Niedere bleibt ausgeklammert. Die pse_287.037
Verwesentlichung führt in den Bereich einer gelösten, harmonischen pse_287.038
Haltung.

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Fritz Reuters oder an die Lyrik von Klaus Groth —, pse_287.002
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auch fehlen und nur die Naturwüchsigkeit des Naturkindes pse_287.004
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spricht schon tiefere Gefühlsschichten an; das Graziöse ist pse_287.028
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keine Rätsel auf und läßt keine hohen Geheimnisse ahnen. Es pse_287.033
spricht durch die gefällige, glatte Form an und durch die pse_287.034
Natürlichkeit des Gehalts. Die Wirklichkeit, die in die pse_287.035
Dichtung hereingenommen wird, ist streng ausgewählt: pse_287.036
alles Schwere, Hohe oder Niedere bleibt ausgeklammert. Die pse_287.037
Verwesentlichung führt in den Bereich einer gelösten, harmonischen pse_287.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/303>, abgerufen am 14.05.2024.