pse_286.001 der Weltauffassung macht es einen Unterschied aus, ob man pse_286.002 ganz nahe an der Wirklichkeit verbleibt oder ins Wesen vorzudringen pse_286.003 sucht, ob man die Welt von der heiteren oder pse_286.004 ernsten Seite sieht. Vor allem aber zeigen sich die Unterschiede pse_286.005 in allen Stilzügen: im Wortschatz, in der Art der pse_286.006 Fügung, im Satzbau und besonders in den sprachlichen Bildern. pse_286.007 Aber auch im Aufbau werden sich solche Haltungen pse_286.008 zeigen, wie sie die lateinischen Ausdrücke docere, delectare pse_286.009 und movere meinen. Wir unterscheiden zunächst im großen pse_286.010 einen derben, einen mittleren und einen erhabenen Stil. pse_286.011 Diese Einteilung geht von einer mittleren Haltung aus, überbaut pse_286.012 sie durch eine gehobene, dem Alltag entstiegene und pse_286.013 setzt eine gegenteilige darunter.
pse_286.014 Die derbe Gestaltungsebene ist uns besonders durch den pse_286.015 Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht pse_286.016 nur da. Man denke an die Pförtnerszene im "Macbeth", an pse_286.017 manches in der Barockdichtung. Vor allem der Sturm und pse_286.018 Drang hat immer wieder zu ihr gegriffen. Schweizer in pse_286.019 Schillers "Räuber" sagt einmal (2/3): "Ha! ich will ihnen mit pse_286.020 meinen Fangern den Bauch schlitzen, daß ihnen die Kutteln pse_286.021 schuhlang herausplatzen!" Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche pse_286.022 auf, die man für gewöhnlich im Gespräch pse_286.023 vermeidet, und treibt sie mit einer Unbekümmertheit heraus, pse_286.024 daß mit aller Kraft das Wesen solcher Seiten der Wirklichkeit pse_286.025 lebendig wird. Die Derbheit ist hier stärkste Vitalität, die also pse_286.026 gerade aus den untersten Bereichen des Lebens ihre Gestaltungsmittel pse_286.027 nimmt. Es kann auch ein anderer Ton mitklingen. pse_286.028 Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung "Wien wörtlich" pse_286.029 endet mit den Versen:
pse_286.030
Des hoat kan Goethe geschriebn, des hoat kan Schiller dicht;pse_286.031 is von kan Klassiker, von kan Genie,pse_286.032 des is a Weaner, der mit unsern Göscherl spricht,pse_286.033 und segn S', erst des is für uns Poesie.
pse_286.034
Hier ist die Derbheit nicht mehr Ausdruck ungebundener pse_286.035 Vitalität, sondern einer proletenhaften Haltung mit deutlich pse_286.036 sozialem Unterton. Mundartdichtung muß nicht immer pse_286.037 dieser Ebene angehören -- man denke an die ernsten Erzählungen
pse_286.001 der Weltauffassung macht es einen Unterschied aus, ob man pse_286.002 ganz nahe an der Wirklichkeit verbleibt oder ins Wesen vorzudringen pse_286.003 sucht, ob man die Welt von der heiteren oder pse_286.004 ernsten Seite sieht. Vor allem aber zeigen sich die Unterschiede pse_286.005 in allen Stilzügen: im Wortschatz, in der Art der pse_286.006 Fügung, im Satzbau und besonders in den sprachlichen Bildern. pse_286.007 Aber auch im Aufbau werden sich solche Haltungen pse_286.008 zeigen, wie sie die lateinischen Ausdrücke docere, delectare pse_286.009 und movere meinen. Wir unterscheiden zunächst im großen pse_286.010 einen derben, einen mittleren und einen erhabenen Stil. pse_286.011 Diese Einteilung geht von einer mittleren Haltung aus, überbaut pse_286.012 sie durch eine gehobene, dem Alltag entstiegene und pse_286.013 setzt eine gegenteilige darunter.
pse_286.014 Die derbe Gestaltungsebene ist uns besonders durch den pse_286.015 Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht pse_286.016 nur da. Man denke an die Pförtnerszene im »Macbeth«, an pse_286.017 manches in der Barockdichtung. Vor allem der Sturm und pse_286.018 Drang hat immer wieder zu ihr gegriffen. Schweizer in pse_286.019 Schillers »Räuber« sagt einmal (2/3): »Ha! ich will ihnen mit pse_286.020 meinen Fangern den Bauch schlitzen, daß ihnen die Kutteln pse_286.021 schuhlang herausplatzen!« Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche pse_286.022 auf, die man für gewöhnlich im Gespräch pse_286.023 vermeidet, und treibt sie mit einer Unbekümmertheit heraus, pse_286.024 daß mit aller Kraft das Wesen solcher Seiten der Wirklichkeit pse_286.025 lebendig wird. Die Derbheit ist hier stärkste Vitalität, die also pse_286.026 gerade aus den untersten Bereichen des Lebens ihre Gestaltungsmittel pse_286.027 nimmt. Es kann auch ein anderer Ton mitklingen. pse_286.028 Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung »Wien wörtlich« pse_286.029 endet mit den Versen:
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Des ho̊at kan Goethe geschriebn, des ho̊at kan Schiller dicht;pse_286.031 is von kan Klassiker, von kan Genie,pse_286.032 des is a Weaner, der mit unsern Göscherl spricht,pse_286.033 und segn S', erst des is für uns Poesie.
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Hier ist die Derbheit nicht mehr Ausdruck ungebundener pse_286.035 Vitalität, sondern einer proletenhaften Haltung mit deutlich pse_286.036 sozialem Unterton. Mundartdichtung muß nicht immer pse_286.037 dieser Ebene angehören — man denke an die ernsten Erzählungen
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Fügung, im Satzbau und besonders in den sprachlichen Bildern. pse_286.007
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Naturalismus nahegebracht worden. Aber sie findet sich nicht pse_286.016
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Drang hat immer wieder zu ihr gegriffen. Schweizer in pse_286.019
Schillers »Räuber« sagt einmal (2/3): »Ha! ich will ihnen mit pse_286.020
meinen Fangern den Bauch schlitzen, daß ihnen die Kutteln pse_286.021
schuhlang herausplatzen!« Dieses kräftige Bild greift Wirklichkeitsbereiche pse_286.022
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Der Leitspruch zu Weinhebers Sammlung »Wien wörtlich« pse_286.029
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/302>, abgerufen am 25.11.2024.
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