Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_270.001
Allgemeinheit des Denkens und macht von hier aus die Gesetzmäßigkeit pse_270.002
der konkreten Erscheinung durch Zusammenfassung pse_270.003
der wesentlichen Merkmale zur denkerischen Einheit pse_270.004
begreifbar. Es ist ein rein rationaler Vorgang, ein rationales pse_270.005
Gebilde, das von allem Einmaligen, Fülligen, Greifbaren absieht. pse_270.006
Das Symbol ist ein Bild, d. h. ein Gebilde, in dem die pse_270.007
Fülle des Wirklichen lebendig ist, in dem die Worte einen pse_270.008
viel volleren Gehalt entfalten, in dem durch den stimmungsmäßigen pse_270.009
und lautungsmäßigen Zusammenklang der Worte, pse_270.010
durch die Satzbewegung eine Ganzheit entsteht, die aus den pse_270.011
Tiefen kommt und solche eben in dieser Fülle und Eindringlichkeit pse_270.012
zugleich mitgestaltet und ahnen läßt. Beide, der Begriff pse_270.013
und das Symbol, erschließen die Welt und erhellen sie, pse_270.014
jedes auf seine Weise, und daher jedes vollwertig und zurecht pse_270.015
bestehend. Symbole sind keine Produkte unverbindlich pse_270.016
spielender Phantasie, sondern erwachsen aus dem Ernst pse_270.017
dichterischer Seinserhellung.

pse_270.018
Diese Seinserhellung durch das dichterische Symbol kann pse_270.019
verschieden sein. Das eine Mal ist das dichterische Bild in pse_270.020
seiner Fülle, Gemüthaftigkeit und Tiefe da, in ihm verdichtet pse_270.021
sich dem Dichter die Wirklichkeit, die er sprachlich bewältigt, pse_270.022
und aus ihm enthüllt sich der Sinn, indem sich die sinnerschließende pse_270.023
Kraft des Bildes entfaltet: durch die Stellen, an pse_270.024
denen es auftaucht, durch Wiederholung, durch eindringlichste pse_270.025
Formung. Das andere Mal ist dem Dichter der Inhalt pse_270.026
seiner Aussage schon längst bewußt, er sucht nun nach dem pse_270.027
Bild, in dem er am wirkungsvollsten lebendig werden kann. pse_270.028
Jenes ist etwa die Art Goethes, dieses die der Symbolisten, pse_270.029
auch etwa C. F. Meyers. Einen anderen Unterschied macht pse_270.030
es aus, ob das Symbol als ein scharf abgrenzbares Gebilde pse_270.031
erscheint, wie wir es in der Schwarzen Spinne oder im chinesischen pse_270.032
Tempel der Jungfer Züs vor uns haben, wie es aber pse_270.033
auch zu den Allegorien und Emblemen hinführen kann, oder pse_270.034
ob ein mehr verschwommenes, fließendes Bild uns langsam pse_270.035
und ahnend den Gehalt eines ganzen Dichtwerks erschließt, pse_270.036
wie etwa Mond und Fluß in Goethes Mondlied. Aber auch pse_270.037
hier muß es immer ein irgendwie umgrenztes, geschlossenes pse_270.038
Gebilde sein. Eine weitere Unterscheidung ist folgende: eine

pse_270.001
Allgemeinheit des Denkens und macht von hier aus die Gesetzmäßigkeit pse_270.002
der konkreten Erscheinung durch Zusammenfassung pse_270.003
der wesentlichen Merkmale zur denkerischen Einheit pse_270.004
begreifbar. Es ist ein rein rationaler Vorgang, ein rationales pse_270.005
Gebilde, das von allem Einmaligen, Fülligen, Greifbaren absieht. pse_270.006
Das Symbol ist ein Bild, d. h. ein Gebilde, in dem die pse_270.007
Fülle des Wirklichen lebendig ist, in dem die Worte einen pse_270.008
viel volleren Gehalt entfalten, in dem durch den stimmungsmäßigen pse_270.009
und lautungsmäßigen Zusammenklang der Worte, pse_270.010
durch die Satzbewegung eine Ganzheit entsteht, die aus den pse_270.011
Tiefen kommt und solche eben in dieser Fülle und Eindringlichkeit pse_270.012
zugleich mitgestaltet und ahnen läßt. Beide, der Begriff pse_270.013
und das Symbol, erschließen die Welt und erhellen sie, pse_270.014
jedes auf seine Weise, und daher jedes vollwertig und zurecht pse_270.015
bestehend. Symbole sind keine Produkte unverbindlich pse_270.016
spielender Phantasie, sondern erwachsen aus dem Ernst pse_270.017
dichterischer Seinserhellung.

pse_270.018
Diese Seinserhellung durch das dichterische Symbol kann pse_270.019
verschieden sein. Das eine Mal ist das dichterische Bild in pse_270.020
seiner Fülle, Gemüthaftigkeit und Tiefe da, in ihm verdichtet pse_270.021
sich dem Dichter die Wirklichkeit, die er sprachlich bewältigt, pse_270.022
und aus ihm enthüllt sich der Sinn, indem sich die sinnerschließende pse_270.023
Kraft des Bildes entfaltet: durch die Stellen, an pse_270.024
denen es auftaucht, durch Wiederholung, durch eindringlichste pse_270.025
Formung. Das andere Mal ist dem Dichter der Inhalt pse_270.026
seiner Aussage schon längst bewußt, er sucht nun nach dem pse_270.027
Bild, in dem er am wirkungsvollsten lebendig werden kann. pse_270.028
Jenes ist etwa die Art Goethes, dieses die der Symbolisten, pse_270.029
auch etwa C. F. Meyers. Einen anderen Unterschied macht pse_270.030
es aus, ob das Symbol als ein scharf abgrenzbares Gebilde pse_270.031
erscheint, wie wir es in der Schwarzen Spinne oder im chinesischen pse_270.032
Tempel der Jungfer Züs vor uns haben, wie es aber pse_270.033
auch zu den Allegorien und Emblemen hinführen kann, oder pse_270.034
ob ein mehr verschwommenes, fließendes Bild uns langsam pse_270.035
und ahnend den Gehalt eines ganzen Dichtwerks erschließt, pse_270.036
wie etwa Mond und Fluß in Goethes Mondlied. Aber auch pse_270.037
hier muß es immer ein irgendwie umgrenztes, geschlossenes pse_270.038
Gebilde sein. Eine weitere Unterscheidung ist folgende: eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0286" n="270"/><lb n="pse_270.001"/>
Allgemeinheit des Denkens und macht von hier aus die Gesetzmäßigkeit <lb n="pse_270.002"/>
der konkreten Erscheinung durch Zusammenfassung <lb n="pse_270.003"/>
der wesentlichen Merkmale zur denkerischen Einheit <lb n="pse_270.004"/>
begreifbar. Es ist ein rein rationaler Vorgang, ein rationales <lb n="pse_270.005"/>
Gebilde, das von allem Einmaligen, Fülligen, Greifbaren absieht. <lb n="pse_270.006"/>
Das Symbol ist ein Bild, d. h. ein Gebilde, in dem die <lb n="pse_270.007"/>
Fülle des Wirklichen lebendig ist, in dem die Worte einen <lb n="pse_270.008"/>
viel volleren Gehalt entfalten, in dem durch den stimmungsmäßigen <lb n="pse_270.009"/>
und lautungsmäßigen Zusammenklang der Worte, <lb n="pse_270.010"/>
durch die Satzbewegung eine Ganzheit entsteht, die aus den <lb n="pse_270.011"/>
Tiefen kommt und solche eben in dieser Fülle und Eindringlichkeit <lb n="pse_270.012"/>
zugleich mitgestaltet und ahnen läßt. Beide, der Begriff <lb n="pse_270.013"/>
und das Symbol, erschließen die Welt und erhellen sie, <lb n="pse_270.014"/>
jedes auf seine Weise, und daher jedes vollwertig und zurecht <lb n="pse_270.015"/>
bestehend. Symbole sind keine Produkte unverbindlich <lb n="pse_270.016"/>
spielender Phantasie, sondern erwachsen aus dem Ernst <lb n="pse_270.017"/>
dichterischer Seinserhellung.</p>
              <p><lb n="pse_270.018"/>
Diese Seinserhellung durch das dichterische Symbol kann <lb n="pse_270.019"/>
verschieden sein. Das eine Mal ist das dichterische Bild in <lb n="pse_270.020"/>
seiner Fülle, Gemüthaftigkeit und Tiefe da, in ihm verdichtet <lb n="pse_270.021"/>
sich dem Dichter die Wirklichkeit, die er sprachlich bewältigt, <lb n="pse_270.022"/>
und aus ihm enthüllt sich der Sinn, indem sich die sinnerschließende <lb n="pse_270.023"/>
Kraft des Bildes entfaltet: durch die Stellen, an <lb n="pse_270.024"/>
denen es auftaucht, durch Wiederholung, durch eindringlichste <lb n="pse_270.025"/>
Formung. Das andere Mal ist dem Dichter der Inhalt <lb n="pse_270.026"/>
seiner Aussage schon längst bewußt, er sucht nun nach dem <lb n="pse_270.027"/>
Bild, in dem er am wirkungsvollsten lebendig werden kann. <lb n="pse_270.028"/>
Jenes ist etwa die Art Goethes, dieses die der Symbolisten, <lb n="pse_270.029"/>
auch etwa C. F. Meyers. Einen anderen Unterschied macht <lb n="pse_270.030"/>
es aus, ob das Symbol als ein scharf abgrenzbares Gebilde <lb n="pse_270.031"/>
erscheint, wie wir es in der Schwarzen Spinne oder im chinesischen <lb n="pse_270.032"/>
Tempel der Jungfer Züs vor uns haben, wie es aber <lb n="pse_270.033"/>
auch zu den Allegorien und Emblemen hinführen kann, oder <lb n="pse_270.034"/>
ob ein mehr verschwommenes, fließendes Bild uns langsam <lb n="pse_270.035"/>
und ahnend den Gehalt eines ganzen Dichtwerks erschließt, <lb n="pse_270.036"/>
wie etwa Mond und Fluß in Goethes Mondlied. Aber auch <lb n="pse_270.037"/>
hier muß es immer ein irgendwie umgrenztes, geschlossenes <lb n="pse_270.038"/>
Gebilde sein. Eine weitere Unterscheidung ist folgende: eine
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[270/0286] pse_270.001 Allgemeinheit des Denkens und macht von hier aus die Gesetzmäßigkeit pse_270.002 der konkreten Erscheinung durch Zusammenfassung pse_270.003 der wesentlichen Merkmale zur denkerischen Einheit pse_270.004 begreifbar. Es ist ein rein rationaler Vorgang, ein rationales pse_270.005 Gebilde, das von allem Einmaligen, Fülligen, Greifbaren absieht. pse_270.006 Das Symbol ist ein Bild, d. h. ein Gebilde, in dem die pse_270.007 Fülle des Wirklichen lebendig ist, in dem die Worte einen pse_270.008 viel volleren Gehalt entfalten, in dem durch den stimmungsmäßigen pse_270.009 und lautungsmäßigen Zusammenklang der Worte, pse_270.010 durch die Satzbewegung eine Ganzheit entsteht, die aus den pse_270.011 Tiefen kommt und solche eben in dieser Fülle und Eindringlichkeit pse_270.012 zugleich mitgestaltet und ahnen läßt. Beide, der Begriff pse_270.013 und das Symbol, erschließen die Welt und erhellen sie, pse_270.014 jedes auf seine Weise, und daher jedes vollwertig und zurecht pse_270.015 bestehend. Symbole sind keine Produkte unverbindlich pse_270.016 spielender Phantasie, sondern erwachsen aus dem Ernst pse_270.017 dichterischer Seinserhellung. pse_270.018 Diese Seinserhellung durch das dichterische Symbol kann pse_270.019 verschieden sein. Das eine Mal ist das dichterische Bild in pse_270.020 seiner Fülle, Gemüthaftigkeit und Tiefe da, in ihm verdichtet pse_270.021 sich dem Dichter die Wirklichkeit, die er sprachlich bewältigt, pse_270.022 und aus ihm enthüllt sich der Sinn, indem sich die sinnerschließende pse_270.023 Kraft des Bildes entfaltet: durch die Stellen, an pse_270.024 denen es auftaucht, durch Wiederholung, durch eindringlichste pse_270.025 Formung. Das andere Mal ist dem Dichter der Inhalt pse_270.026 seiner Aussage schon längst bewußt, er sucht nun nach dem pse_270.027 Bild, in dem er am wirkungsvollsten lebendig werden kann. pse_270.028 Jenes ist etwa die Art Goethes, dieses die der Symbolisten, pse_270.029 auch etwa C. F. Meyers. Einen anderen Unterschied macht pse_270.030 es aus, ob das Symbol als ein scharf abgrenzbares Gebilde pse_270.031 erscheint, wie wir es in der Schwarzen Spinne oder im chinesischen pse_270.032 Tempel der Jungfer Züs vor uns haben, wie es aber pse_270.033 auch zu den Allegorien und Emblemen hinführen kann, oder pse_270.034 ob ein mehr verschwommenes, fließendes Bild uns langsam pse_270.035 und ahnend den Gehalt eines ganzen Dichtwerks erschließt, pse_270.036 wie etwa Mond und Fluß in Goethes Mondlied. Aber auch pse_270.037 hier muß es immer ein irgendwie umgrenztes, geschlossenes pse_270.038 Gebilde sein. Eine weitere Unterscheidung ist folgende: eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/286
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/286>, abgerufen am 10.05.2024.