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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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konkrete Gestalt, z. B. die Person Adams, dehnt sich und pse_271.002
vertieft sich langsam zum Bild des Menschen überhaupt. pse_271.003
In Gegenbewegung dazu verdichten sich allgemeine und umfassende pse_271.004
Erlebnisse der Welt und des Lebens zu Gestalten pse_271.005
von eindringlicher Bedeutsamkeit, die also schon von vornherein pse_271.006
symbolisch sind: Don Quijote, Kohlhaas.

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Symbole enthüllen ihren tieferen Sinn in einer Dichtung pse_271.008
immer aus dem ganz bestimmten Zusammenhang, in dem sie pse_271.009
stehen. Man erkannte, daß bestimmte Symbole bei Goethe, pse_271.010
besonders im "Faust II", beinahe vieldeutig sind, daß nur ein pse_271.011
sehr umfassender Gehalt, vielleicht eine Art Urgefühl das pse_271.012
Bindende ist, das dann an den einzelnen Stellen in einer ganz pse_271.013
konkreten Erfassungsweise herausgeformt wird; so erscheint pse_271.014
das Gold als etwas Lockend-Untergründiges, das Glück und pse_271.015
Unglück, Schönheit und Verderben sein kann, je nachdem pse_271.016
wie dieses Untergründige an der betreffenden Stelle eingebaut pse_271.017
ist. Damit wird ihr Sinn als Glied in der Architektur pse_271.018
des Ganzen deutlich. Sie haben zunächst in ihrer erschließenden pse_271.019
Eindringlichkeit einen Stellenwert, d. h. sie bilden eben pse_271.020
durch diese Eigenschaft Höhepunkte der Dichtung; sie haben pse_271.021
eine antreibende Wirkung, indem von ihnen aus neue Impulse pse_271.022
für die Fortbewegung der Dichtung ausgehen; endlich pse_271.023
verbinden sie durch ihren Gehalt verschiedene Glieder der pse_271.024
Dichtung, beleuchten Früheres und vertiefen die ganze dichterische pse_271.025
Bewegung.

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Die Allegorie steht nicht in einem eindeutigen Verhältnis pse_271.027
zum Symbol. Ihr Wesen ist klar: es ist ein feststehendes pse_271.028
(sprachliches oder dichterisches) Bild für einen fixierbaren pse_271.029
Begriff, sie übersetzt ein Gedachtes in ein Bild. Dieses Bild pse_271.030
hat keinen Sinn für sich, wie das beim Symbol der Fall ist, pse_271.031
sondern nur eine Bedeutung als Zeichen für etwas. Allegorien pse_271.032
können neben Symbolen seit alters bestehen; aber pse_271.033
Symbole können auch im Lauf der Entwicklung zu Allegorien pse_271.034
werden, wenn die Einheit von Bild und Sinn im Symbol pse_271.035
sich lockert und endlich das Bild zum Zeichen für etwas pse_271.036
Gedachtes erstarrt. Man kann beim alten Goethe beobachten, pse_271.037
wie mit der Zeit bestimmte Symbole immer mehr stets angewandte pse_271.038
Zeichen werden, um gleichsam in solcher Kurzform

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konkrete Gestalt, z. B. die Person Adams, dehnt sich und pse_271.002
vertieft sich langsam zum Bild des Menschen überhaupt. pse_271.003
In Gegenbewegung dazu verdichten sich allgemeine und umfassende pse_271.004
Erlebnisse der Welt und des Lebens zu Gestalten pse_271.005
von eindringlicher Bedeutsamkeit, die also schon von vornherein pse_271.006
symbolisch sind: Don Quijote, Kohlhaas.

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Symbole enthüllen ihren tieferen Sinn in einer Dichtung pse_271.008
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stehen. Man erkannte, daß bestimmte Symbole bei Goethe, pse_271.010
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Bindende ist, das dann an den einzelnen Stellen in einer ganz pse_271.013
konkreten Erfassungsweise herausgeformt wird; so erscheint pse_271.014
das Gold als etwas Lockend-Untergründiges, das Glück und pse_271.015
Unglück, Schönheit und Verderben sein kann, je nachdem pse_271.016
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Eindringlichkeit einen Stellenwert, d. h. sie bilden eben pse_271.020
durch diese Eigenschaft Höhepunkte der Dichtung; sie haben pse_271.021
eine antreibende Wirkung, indem von ihnen aus neue Impulse pse_271.022
für die Fortbewegung der Dichtung ausgehen; endlich pse_271.023
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Dichtung, beleuchten Früheres und vertiefen die ganze dichterische pse_271.025
Bewegung.

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Die Allegorie steht nicht in einem eindeutigen Verhältnis pse_271.027
zum Symbol. Ihr Wesen ist klar: es ist ein feststehendes pse_271.028
(sprachliches oder dichterisches) Bild für einen fixierbaren pse_271.029
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hat keinen Sinn für sich, wie das beim Symbol der Fall ist, pse_271.031
sondern nur eine Bedeutung als Zeichen für etwas. Allegorien pse_271.032
können neben Symbolen seit alters bestehen; aber pse_271.033
Symbole können auch im Lauf der Entwicklung zu Allegorien pse_271.034
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sich lockert und endlich das Bild zum Zeichen für etwas pse_271.036
Gedachtes erstarrt. Man kann beim alten Goethe beobachten, pse_271.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/287>, abgerufen am 10.05.2024.