Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_250.001
sind dabei bis zu einem gewissen Grade immer auch Kinder pse_250.002
ihrer Zeit oder Anreger und daher teilweise Schöpfer eines pse_250.003
Epochenstils. Zugleich aber scheint es manchmal bedenklich, pse_250.004
von Epochenstil zu sprechen. Wenn wir Grillparzer, Keller, pse_250.005
Hebbel, Raabe und Stifter miteinander vergleichen, so zeigen pse_250.006
sich uns nicht nur deutlich ausgeprägte Dichterpersönlichkeiten, pse_250.007
sondern wir fragen, ob hier noch Epochenübereinstimmungen pse_250.008
zu finden sind. Dem Zeitstil scheint bei genauerer pse_250.009
Betrachtung vielfach die innere Einheit zu fehlen, pse_250.010
die mannigfachsten Schichten des Überindividuellen verflechten pse_250.011
sich in einer Zeit. Auch sind in den verschiedenen pse_250.012
Epochen die Bindungen zwischen Zeitgeist und Persönlichkeit pse_250.013
durchaus nicht immer gleich.

pse_250.014
Vor allem spielen traditionelle Formen der Sprachkunst pse_250.015
nicht zu allen Zeiten die gleiche Rolle. Wir haben auf diese pse_250.016
Zusammenhänge schon öfter hingewiesen, müssen aber hier pse_250.017
aus diesem Zusammenhang heraus nochmals dabei kurz verweilen. pse_250.018
Wer von der Dichtung des Sturm und Drang, der pse_250.019
Romantik oder des Impressionismus aus den Minnesang oder pse_250.020
die Barockdichtung bewerten wollte, käme zu falschen Beurteilungen. pse_250.021
Seit der Spätantike bedeutet Dichten immer pse_250.022
wieder Schaffen schöner, in besonderen Formen gehaltener pse_250.023
Werke nach üblichen Mustern und mit Hilfe immer bereitstehender pse_250.024
Schmuck- und Redeformen. "Es gibt einen Schatz pse_250.025
poetischer Bilder, geprägter Formeln und technischer Darbietungsweisen, pse_250.026
die man lernt und die auch der größte Dichter pse_250.027
nicht verschmäht" (Kayser). Man konnte nachweisen, daß pse_250.028
es sogar Muster von Landschaftsbildern gibt, von denen man pse_250.029
sich kaum entfernt: zur Art der lieblichen Landschaft gehören pse_250.030
Wiesen, Bächlein, sanfte Lüfte und Vogelsang geradezu pse_250.031
als Requisiten. Wir haben von Topoi und Emblemen pse_250.032
gesprochen. Freilich wäre es falsch zu glauben, seit dem Sturm pse_250.033
und Drang spielten diese vorgeprägten Formen keine Rolle pse_250.034
mehr. Aber sie sind nicht mehr so entscheidend. Doch vor pse_250.035
dem späten 18. Jahrhundert -- nicht in allen Epochen gleich -- pse_250.036
sind die Lehrbücher der Rhetorik und Stilistik für das dichterische pse_250.037
Schaffen unbedingt wichtiger gewesen als nachher. pse_250.038
Ihr Sinn war: die sprachlichen Mittel bereitzustellen, um

pse_250.001
sind dabei bis zu einem gewissen Grade immer auch Kinder pse_250.002
ihrer Zeit oder Anreger und daher teilweise Schöpfer eines pse_250.003
Epochenstils. Zugleich aber scheint es manchmal bedenklich, pse_250.004
von Epochenstil zu sprechen. Wenn wir Grillparzer, Keller, pse_250.005
Hebbel, Raabe und Stifter miteinander vergleichen, so zeigen pse_250.006
sich uns nicht nur deutlich ausgeprägte Dichterpersönlichkeiten, pse_250.007
sondern wir fragen, ob hier noch Epochenübereinstimmungen pse_250.008
zu finden sind. Dem Zeitstil scheint bei genauerer pse_250.009
Betrachtung vielfach die innere Einheit zu fehlen, pse_250.010
die mannigfachsten Schichten des Überindividuellen verflechten pse_250.011
sich in einer Zeit. Auch sind in den verschiedenen pse_250.012
Epochen die Bindungen zwischen Zeitgeist und Persönlichkeit pse_250.013
durchaus nicht immer gleich.

pse_250.014
Vor allem spielen traditionelle Formen der Sprachkunst pse_250.015
nicht zu allen Zeiten die gleiche Rolle. Wir haben auf diese pse_250.016
Zusammenhänge schon öfter hingewiesen, müssen aber hier pse_250.017
aus diesem Zusammenhang heraus nochmals dabei kurz verweilen. pse_250.018
Wer von der Dichtung des Sturm und Drang, der pse_250.019
Romantik oder des Impressionismus aus den Minnesang oder pse_250.020
die Barockdichtung bewerten wollte, käme zu falschen Beurteilungen. pse_250.021
Seit der Spätantike bedeutet Dichten immer pse_250.022
wieder Schaffen schöner, in besonderen Formen gehaltener pse_250.023
Werke nach üblichen Mustern und mit Hilfe immer bereitstehender pse_250.024
Schmuck- und Redeformen. »Es gibt einen Schatz pse_250.025
poetischer Bilder, geprägter Formeln und technischer Darbietungsweisen, pse_250.026
die man lernt und die auch der größte Dichter pse_250.027
nicht verschmäht« (Kayser). Man konnte nachweisen, daß pse_250.028
es sogar Muster von Landschaftsbildern gibt, von denen man pse_250.029
sich kaum entfernt: zur Art der lieblichen Landschaft gehören pse_250.030
Wiesen, Bächlein, sanfte Lüfte und Vogelsang geradezu pse_250.031
als Requisiten. Wir haben von Topoi und Emblemen pse_250.032
gesprochen. Freilich wäre es falsch zu glauben, seit dem Sturm pse_250.033
und Drang spielten diese vorgeprägten Formen keine Rolle pse_250.034
mehr. Aber sie sind nicht mehr so entscheidend. Doch vor pse_250.035
dem späten 18. Jahrhundert — nicht in allen Epochen gleich — pse_250.036
sind die Lehrbücher der Rhetorik und Stilistik für das dichterische pse_250.037
Schaffen unbedingt wichtiger gewesen als nachher. pse_250.038
Ihr Sinn war: die sprachlichen Mittel bereitzustellen, um

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0266" n="250"/><lb n="pse_250.001"/>
sind dabei bis zu einem gewissen Grade immer auch Kinder <lb n="pse_250.002"/>
ihrer Zeit oder Anreger und daher teilweise Schöpfer eines <lb n="pse_250.003"/>
Epochenstils. Zugleich aber scheint es manchmal bedenklich, <lb n="pse_250.004"/>
von Epochenstil zu sprechen. Wenn wir Grillparzer, Keller, <lb n="pse_250.005"/>
Hebbel, Raabe und Stifter miteinander vergleichen, so zeigen <lb n="pse_250.006"/>
sich uns nicht nur deutlich ausgeprägte Dichterpersönlichkeiten, <lb n="pse_250.007"/>
sondern wir fragen, ob hier noch Epochenübereinstimmungen <lb n="pse_250.008"/>
zu finden sind. Dem Zeitstil scheint bei genauerer <lb n="pse_250.009"/>
Betrachtung vielfach die innere Einheit zu fehlen, <lb n="pse_250.010"/>
die mannigfachsten Schichten des Überindividuellen verflechten <lb n="pse_250.011"/>
sich in einer Zeit. Auch sind in den verschiedenen <lb n="pse_250.012"/>
Epochen die Bindungen zwischen Zeitgeist und Persönlichkeit <lb n="pse_250.013"/>
durchaus nicht immer gleich.</p>
            <p><lb n="pse_250.014"/>
Vor allem spielen traditionelle Formen der Sprachkunst <lb n="pse_250.015"/>
nicht zu allen Zeiten die gleiche Rolle. Wir haben auf diese <lb n="pse_250.016"/>
Zusammenhänge schon öfter hingewiesen, müssen aber hier <lb n="pse_250.017"/>
aus diesem Zusammenhang heraus nochmals dabei kurz verweilen. <lb n="pse_250.018"/>
Wer von der Dichtung des Sturm und Drang, der <lb n="pse_250.019"/>
Romantik oder des Impressionismus aus den Minnesang oder <lb n="pse_250.020"/>
die Barockdichtung bewerten wollte, käme zu falschen Beurteilungen. <lb n="pse_250.021"/>
Seit der Spätantike bedeutet Dichten immer <lb n="pse_250.022"/>
wieder Schaffen schöner, in besonderen Formen gehaltener <lb n="pse_250.023"/>
Werke nach üblichen Mustern und mit Hilfe immer bereitstehender <lb n="pse_250.024"/>
Schmuck- und Redeformen. »Es gibt einen Schatz <lb n="pse_250.025"/>
poetischer Bilder, geprägter Formeln und technischer Darbietungsweisen, <lb n="pse_250.026"/>
die man lernt und die auch der größte Dichter <lb n="pse_250.027"/>
nicht verschmäht« (Kayser). Man konnte nachweisen, daß <lb n="pse_250.028"/>
es sogar Muster von Landschaftsbildern gibt, von denen man <lb n="pse_250.029"/>
sich kaum entfernt: zur Art der lieblichen Landschaft gehören <lb n="pse_250.030"/>
Wiesen, Bächlein, sanfte Lüfte und Vogelsang geradezu <lb n="pse_250.031"/>
als Requisiten. Wir haben von Topoi und Emblemen <lb n="pse_250.032"/>
gesprochen. Freilich wäre es falsch zu glauben, seit dem Sturm <lb n="pse_250.033"/>
und Drang spielten diese vorgeprägten Formen keine Rolle <lb n="pse_250.034"/>
mehr. Aber sie sind nicht mehr so entscheidend. Doch vor <lb n="pse_250.035"/>
dem späten 18. Jahrhundert &#x2014; nicht in allen Epochen gleich &#x2014; <lb n="pse_250.036"/>
sind die Lehrbücher der Rhetorik und Stilistik für das dichterische <lb n="pse_250.037"/>
Schaffen unbedingt wichtiger gewesen als nachher. <lb n="pse_250.038"/>
Ihr Sinn war: die sprachlichen Mittel bereitzustellen, um
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0266] pse_250.001 sind dabei bis zu einem gewissen Grade immer auch Kinder pse_250.002 ihrer Zeit oder Anreger und daher teilweise Schöpfer eines pse_250.003 Epochenstils. Zugleich aber scheint es manchmal bedenklich, pse_250.004 von Epochenstil zu sprechen. Wenn wir Grillparzer, Keller, pse_250.005 Hebbel, Raabe und Stifter miteinander vergleichen, so zeigen pse_250.006 sich uns nicht nur deutlich ausgeprägte Dichterpersönlichkeiten, pse_250.007 sondern wir fragen, ob hier noch Epochenübereinstimmungen pse_250.008 zu finden sind. Dem Zeitstil scheint bei genauerer pse_250.009 Betrachtung vielfach die innere Einheit zu fehlen, pse_250.010 die mannigfachsten Schichten des Überindividuellen verflechten pse_250.011 sich in einer Zeit. Auch sind in den verschiedenen pse_250.012 Epochen die Bindungen zwischen Zeitgeist und Persönlichkeit pse_250.013 durchaus nicht immer gleich. pse_250.014 Vor allem spielen traditionelle Formen der Sprachkunst pse_250.015 nicht zu allen Zeiten die gleiche Rolle. Wir haben auf diese pse_250.016 Zusammenhänge schon öfter hingewiesen, müssen aber hier pse_250.017 aus diesem Zusammenhang heraus nochmals dabei kurz verweilen. pse_250.018 Wer von der Dichtung des Sturm und Drang, der pse_250.019 Romantik oder des Impressionismus aus den Minnesang oder pse_250.020 die Barockdichtung bewerten wollte, käme zu falschen Beurteilungen. pse_250.021 Seit der Spätantike bedeutet Dichten immer pse_250.022 wieder Schaffen schöner, in besonderen Formen gehaltener pse_250.023 Werke nach üblichen Mustern und mit Hilfe immer bereitstehender pse_250.024 Schmuck- und Redeformen. »Es gibt einen Schatz pse_250.025 poetischer Bilder, geprägter Formeln und technischer Darbietungsweisen, pse_250.026 die man lernt und die auch der größte Dichter pse_250.027 nicht verschmäht« (Kayser). Man konnte nachweisen, daß pse_250.028 es sogar Muster von Landschaftsbildern gibt, von denen man pse_250.029 sich kaum entfernt: zur Art der lieblichen Landschaft gehören pse_250.030 Wiesen, Bächlein, sanfte Lüfte und Vogelsang geradezu pse_250.031 als Requisiten. Wir haben von Topoi und Emblemen pse_250.032 gesprochen. Freilich wäre es falsch zu glauben, seit dem Sturm pse_250.033 und Drang spielten diese vorgeprägten Formen keine Rolle pse_250.034 mehr. Aber sie sind nicht mehr so entscheidend. Doch vor pse_250.035 dem späten 18. Jahrhundert — nicht in allen Epochen gleich — pse_250.036 sind die Lehrbücher der Rhetorik und Stilistik für das dichterische pse_250.037 Schaffen unbedingt wichtiger gewesen als nachher. pse_250.038 Ihr Sinn war: die sprachlichen Mittel bereitzustellen, um

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/266
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/266>, abgerufen am 10.05.2024.