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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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von Jules Legras (daß der Übersetzer noch dazu einen völlig pse_248.002
verwahrlosten Text zugrundelegt, kommt dazu):

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Au dessus des monts regne le grand calme; pse_248.004
Sur tous les sommets des arbres a peine pse_248.005
Percoit-on un souffle; pse_248.006
Les oiseaux du bois sont silencieux. pse_248.007
Encore un instant et ce sera toi pse_248.008
Qui reposeras.

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Eine andere Frage, die uns schon in die geschichtliche Gebundenheit pse_248.010
auch der künstlerischen Sprache hinüberführt, ist pse_248.011
die nach der altertümlichen (archaisierenden) Sprachgestaltung in pse_248.012
Dichtungen.
Der Dichter will damit ganz bestimmte Wirkungen pse_248.013
erzielen, die darin gründen, daß mit dieser Sprachform pse_248.014
der Geist einer früherern Sprachgemeinschaft wieder pse_248.015
lebendig werden soll. Also auch dieser dichterische Versuch pse_248.016
hängt mit der sozialen Gebundenheit der Sprache zusammen. pse_248.017
Ich erinnere an Brentanos Versuche in der "Chronika", an pse_248.018
Storms "Aquis submersus", an bestimmte, ausgedehnte Partien pse_248.019
im "Doktor Faustus" des Thomas Mann, an die ganze pse_248.020
Sprachführung des "Jedermann" und an viele Stellen des pse_248.021
"Turms" von Hofmannsthal, endlich an die ausgedehnten Versuche pse_248.022
Kolbenheyers in seinen Geschichtsromanen. Daß alle pse_248.023
diese Gestaltungen nur aus künstlerischen Gesichtspunkten zu pse_248.024
beurteilen sind, ist selbstverständlich. Es muß freilich hervorgehoben pse_248.025
werden, daß es Thomas Mann im Gegensatz zu den pse_248.026
anderen nicht darauf ankommt, gleichsam alte Haltungen pse_248.027
freizulegen, sondern er verbindet damit zugleich Kritik an pse_248.028
dieser altertümlichen Gestaltung; in ihr solle das Brutale und pse_248.029
Barbarische alter Zeiten hochkommen, wie es ebenso im pse_248.030
Wahnsinnsausbruch Leverkühns hochkommt. Die künstlerische pse_248.031
Möglichkeit soll an einer Stelle aus Kolbenheyers pse_248.032
"Pausewang" angedeutet werden. "Vor etlichen Tägen, da ist pse_248.033
ein warmes Brausen über das Land gegangen -- als wie Sehnsuchtsodem. pse_248.034
Ist den Bäumen in die struppichten Kronen gefahren pse_248.035
und hat sie geschüttlet: Wachet auf! Hat Schnee und pse_248.036
Eis zerfressen und zerrieben, den Boden erweicht und durchquellet pse_248.037
und alle Wurzlen mit lebendigen Wassern umschmeichlet: pse_248.038
Wachet auf! Die Oder ist geschwollen, war ein mächtiges

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von Jules Legras (daß der Übersetzer noch dazu einen völlig pse_248.002
verwahrlosten Text zugrundelegt, kommt dazu):

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Au dessus des monts règne le grand calme; pse_248.004
Sur tous les sommets des arbres à peine pse_248.005
Perçoit-on un souffle; pse_248.006
Les oiseaux du bois sont silencieux. pse_248.007
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Qui reposeras.

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Eine andere Frage, die uns schon in die geschichtliche Gebundenheit pse_248.010
auch der künstlerischen Sprache hinüberführt, ist pse_248.011
die nach der altertümlichen (archaisierenden) Sprachgestaltung in pse_248.012
Dichtungen.
Der Dichter will damit ganz bestimmte Wirkungen pse_248.013
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lebendig werden soll. Also auch dieser dichterische Versuch pse_248.016
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Ich erinnere an Brentanos Versuche in der »Chronika«, an pse_248.018
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»Turms« von Hofmannsthal, endlich an die ausgedehnten Versuche pse_248.022
Kolbenheyers in seinen Geschichtsromanen. Daß alle pse_248.023
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Eis zerfressen und zerrieben, den Boden erweicht und durchquellet pse_248.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/264>, abgerufen am 09.05.2024.