pse_247.001 einer Strophe aus einem Michelangelo-Sonett. Dabei pse_247.002 wollen wir nur die Vorgangswörter im Original und in der pse_247.003 Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen pse_247.004 würde:
pse_247.005
Tolse i gran padri al tenebroso regno,pse_247.006 Gli angeli brutti in piu doglia sommerse:pse_247.007 Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.
pse_247.008 Erzväter riß er aus den Zwischenreichen,pse_247.009 Zog böse Engel tiefer in Beschwerde,pse_247.010 und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.
pse_247.011
Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe pse_247.012 dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern pse_247.013 umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der pse_247.014 Übersetzung völlig verloren. Der letzte Vers ist im Original pse_247.015 wieder so umrahmt; aber das erste Vorgangswort steht im pse_247.016 Präsens -- noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die pse_247.017 sich aus einem abgeschlossenen Vorgang (einfaches Perfekt) pse_247.018 ergibt. Rilke kann die Reihung wieder nicht beibehalten, pse_247.019 setzt das Präsens ins Präteritum und erweicht die scharfe und pse_247.020 klare Perfektform des letzten Vorgangsworts durch den pse_247.021 Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand pse_247.022 der fremden Dichtung mitteilen will, was bei pse_247.023 Lyrik kaum, eher bei epischer und dramatischer Dichtung pse_247.024 möglich ist, nur übrig, entweder eine Paraphrase, also eine pse_247.025 dichterische Umschreibung, zu geben, was unbefriedigend pse_247.026 ist, oder eine Nachdichtung zu versuchen. Das heißt: der pse_247.027 Übersetzer müßte den Gehalt, das Erlebnis des fremden Gedichts pse_247.028 mit den Mitteln seiner Sprache neu zu gestalten versuchen, pse_247.029 so wie es der Dichter selbst in der Übersetzungssprache pse_247.030 getan hätte. Also freie Übersetzung! Daß auch diese pse_247.031 sehr enge Grenzen hat, ist klar. Denn vielfach ist ja der Gehalt, pse_247.032 das Erlebnis nur in der bestimmten Sprachprägung da pse_247.033 und wird in der Übersetzung umgeformt. Wie man da danebengreifen pse_247.034 kann, zeige eine dichterisch an sich sehr wirkungsvolle pse_247.035 und für den französischen Sprachgeist vielleicht pse_247.036 sogar bezeichnende Übersetzung des Goetheschen "Über pse_247.037 allen Gipfeln", die aber den Stimmungsgehalt völlig ändert pse_247.038 und daher das eigentliche Wesen ganz verfehlt; sie stammt
pse_247.001 einer Strophe aus einem Michelangelo-Sonett. Dabei pse_247.002 wollen wir nur die Vorgangswörter im Original und in der pse_247.003 Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen pse_247.004 würde:
pse_247.005
Tolse i gran padri al tenebroso regno,pse_247.006 Gli angeli brutti in più doglia sommerse:pse_247.007 Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.
pse_247.008 Erzväter riß er aus den Zwischenreichen,pse_247.009 Zog böse Engel tiefer in Beschwerde,pse_247.010 und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.
pse_247.011
Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe pse_247.012 dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern pse_247.013 umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der pse_247.014 Übersetzung völlig verloren. Der letzte Vers ist im Original pse_247.015 wieder so umrahmt; aber das erste Vorgangswort steht im pse_247.016 Präsens — noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die pse_247.017 sich aus einem abgeschlossenen Vorgang (einfaches Perfekt) pse_247.018 ergibt. Rilke kann die Reihung wieder nicht beibehalten, pse_247.019 setzt das Präsens ins Präteritum und erweicht die scharfe und pse_247.020 klare Perfektform des letzten Vorgangsworts durch den pse_247.021 Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand pse_247.022 der fremden Dichtung mitteilen will, was bei pse_247.023 Lyrik kaum, eher bei epischer und dramatischer Dichtung pse_247.024 möglich ist, nur übrig, entweder eine Paraphrase, also eine pse_247.025 dichterische Umschreibung, zu geben, was unbefriedigend pse_247.026 ist, oder eine Nachdichtung zu versuchen. Das heißt: der pse_247.027 Übersetzer müßte den Gehalt, das Erlebnis des fremden Gedichts pse_247.028 mit den Mitteln seiner Sprache neu zu gestalten versuchen, pse_247.029 so wie es der Dichter selbst in der Übersetzungssprache pse_247.030 getan hätte. Also freie Übersetzung! Daß auch diese pse_247.031 sehr enge Grenzen hat, ist klar. Denn vielfach ist ja der Gehalt, pse_247.032 das Erlebnis nur in der bestimmten Sprachprägung da pse_247.033 und wird in der Übersetzung umgeformt. Wie man da danebengreifen pse_247.034 kann, zeige eine dichterisch an sich sehr wirkungsvolle pse_247.035 und für den französischen Sprachgeist vielleicht pse_247.036 sogar bezeichnende Übersetzung des Goetheschen »Über pse_247.037 allen Gipfeln«, die aber den Stimmungsgehalt völlig ändert pse_247.038 und daher das eigentliche Wesen ganz verfehlt; sie stammt
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wollen wir nur die Vorgangswörter im Original und in der pse_247.003
Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen pse_247.004
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pse_247.005
Tolse i gran padri al tenebroso regno, pse_247.006
Gli angeli brutti in più doglia sommerse: pse_247.007
Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.
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Erzväter riß er aus den Zwischenreichen, pse_247.009
Zog böse Engel tiefer in Beschwerde, pse_247.010
und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.
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Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe pse_247.012
dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern pse_247.013
umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der pse_247.014
Übersetzung völlig verloren. Der letzte Vers ist im Original pse_247.015
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Präsens — noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die pse_247.017
sich aus einem abgeschlossenen Vorgang (einfaches Perfekt) pse_247.018
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Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand pse_247.022
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/263>, abgerufen am 25.11.2024.
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