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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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einer Strophe aus einem Michelangelo-Sonett. Dabei pse_247.002
wollen wir nur die Vorgangswörter im Original und in der pse_247.003
Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen pse_247.004
würde:

pse_247.005
Tolse i gran padri al tenebroso regno, pse_247.006
Gli angeli brutti in piu doglia sommerse: pse_247.007
Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.
pse_247.008
Erzväter riß er aus den Zwischenreichen, pse_247.009
Zog böse Engel tiefer in Beschwerde, pse_247.010
und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.
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Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe pse_247.012
dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern pse_247.013
umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der pse_247.014
Übersetzung völlig verloren. Der letzte Vers ist im Original pse_247.015
wieder so umrahmt; aber das erste Vorgangswort steht im pse_247.016
Präsens -- noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die pse_247.017
sich aus einem abgeschlossenen Vorgang (einfaches Perfekt) pse_247.018
ergibt. Rilke kann die Reihung wieder nicht beibehalten, pse_247.019
setzt das Präsens ins Präteritum und erweicht die scharfe und pse_247.020
klare Perfektform des letzten Vorgangsworts durch den pse_247.021
Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand pse_247.022
der fremden Dichtung mitteilen will, was bei pse_247.023
Lyrik kaum, eher bei epischer und dramatischer Dichtung pse_247.024
möglich ist, nur übrig, entweder eine Paraphrase, also eine pse_247.025
dichterische Umschreibung, zu geben, was unbefriedigend pse_247.026
ist, oder eine Nachdichtung zu versuchen. Das heißt: der pse_247.027
Übersetzer müßte den Gehalt, das Erlebnis des fremden Gedichts pse_247.028
mit den Mitteln seiner Sprache neu zu gestalten versuchen, pse_247.029
so wie es der Dichter selbst in der Übersetzungssprache pse_247.030
getan hätte. Also freie Übersetzung! Daß auch diese pse_247.031
sehr enge Grenzen hat, ist klar. Denn vielfach ist ja der Gehalt, pse_247.032
das Erlebnis nur in der bestimmten Sprachprägung da pse_247.033
und wird in der Übersetzung umgeformt. Wie man da danebengreifen pse_247.034
kann, zeige eine dichterisch an sich sehr wirkungsvolle pse_247.035
und für den französischen Sprachgeist vielleicht pse_247.036
sogar bezeichnende Übersetzung des Goetheschen "Über pse_247.037
allen Gipfeln", die aber den Stimmungsgehalt völlig ändert pse_247.038
und daher das eigentliche Wesen ganz verfehlt; sie stammt

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einer Strophe aus einem Michelangelo-Sonett. Dabei pse_247.002
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Übersetzung beachten, da der Vergleich sonst zu weit führen pse_247.004
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Tolse i gran padri al tenebroso regno, pse_247.006
Gli angeli brutti in più doglia sommerse: pse_247.007
Gode sol l'huom, ch'al battesmo rinaque.
pse_247.008
Erzväter riß er aus den Zwischenreichen, pse_247.009
Zog böse Engel tiefer in Beschwerde, pse_247.010
und nur der Mensch genoß, daß er sich hübe.
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Michelangelo stellt die ersten zwei Verse zu einer Gruppe pse_247.012
dadurch zusammen, daß er sie von zwei gegensätzlichen Vorgangswörtern pse_247.013
umrahmt: tolse-sommerse. Das geht in der pse_247.014
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wieder so umrahmt; aber das erste Vorgangswort steht im pse_247.016
Präsens — noch heute steht der Mensch in solcher Gnade, die pse_247.017
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ergibt. Rilke kann die Reihung wieder nicht beibehalten, pse_247.019
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Konjunktiv. So bleibt, wenn man nicht einfach den Tatsachenbestand pse_247.022
der fremden Dichtung mitteilen will, was bei pse_247.023
Lyrik kaum, eher bei epischer und dramatischer Dichtung pse_247.024
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sehr enge Grenzen hat, ist klar. Denn vielfach ist ja der Gehalt, pse_247.032
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/263>, abgerufen am 25.11.2024.