pse_155.001 Werk hin verfolgt. Erst wenn wir beobachten, was der Dichter pse_155.002 an dieser Stelle mit einer solchen Formel erreicht, warum pse_155.003 er sie verwendet, aus welcher inneren Haltung, ob es ihm pse_155.004 gelingt, sie wieder mit innerem Gehalt aufzufüllen oder ob pse_155.005 sie wirklich bloße Schablone bleibt, erst dann kommen wir pse_155.006 der künstlerischen Eigenart des Gedichts näher. Zugleich pse_155.007 aber haben wir eine weitere Einsicht in das wirkliche Leben pse_155.008 solcher Formeln gewonnen.
pse_155.009 Damit berühren wir den entgegengesetzten Vorgang im pse_155.010 Sprachleben. Worte und Fügungen können zwar verblassen pse_155.011 und jeden Stilwert verlieren, sie können aber auch wieder pse_155.012 aufblühen und den Stilwert zurückgewinnen oder einen neuen pse_155.013 entfalten: die Aktualisierung der Stilwerte. Es gehört zu den pse_155.014 großen Geheimnissen des Dichters, daß er aus der vom Alltag pse_155.015 angekränkelten Sprache wieder Fülle und Tiefe herausholt, pse_155.016 daß unter seinen Händen die Sprache wieder wie im pse_155.017 Ursprung alle Werte entfaltet und vor allem das Gemüt pse_155.018 durchscheinen läßt. Zunächst ein Beispiel. "Nochmals ward pse_155.019 es Licht und Finsternis, nochmals Tag und Nacht, nochmals pse_155.020 Nächte und Tage ..." (H. Broch, Tod des Vergil, S. 530). pse_155.021 Dadurch, daß die Gruppe "Tag und Nacht" scheinbar wiederholt pse_155.022 wird, aber nun im Plural, fällt diese Form auf, ihr Gehalt, pse_155.023 nämlich die Bezeichnung einer Mehrheit, drängt sich pse_155.024 auf, sie wird gerade auf den Singular hin in ihrer Eigenart pse_155.025 deutlich; wir erleben die Reihe der Tage und Nächte. Das pse_155.026 wirkt um so auffälliger, als die Reihenfolge der beiden Worte pse_155.027 umgestellt wird, wir werden dadurch um so aufmerksamer.
pse_155.028 Die Aktualisierung der Stilwerte kann auf verschiedene pse_155.029 Weise erreicht werden. Zunächst durch die Ausstrahlung. pse_155.030 Das heißt, ein stilwertiges Wort wirkt auf andere, folgende, pse_155.031 und hebt auch die wieder in den Bereich der Sprachkunst.
pse_155.032
Der Abend wiegte schon die Erdepse_155.033 Und an den Bergen hing die Nacht.
pse_155.034
(Goethe, Willkommen und Abschied)
pse_155.035
Das Wort "wiegte" wirkt hier auf das schon eher verflachte pse_155.036 "hing", und dieses gewinnt dadurch neue Kräfte. Wichtiger pse_155.037 ist die Aktualisierung durch Einbettung: in einer stark gemüthaften
pse_155.001 Werk hin verfolgt. Erst wenn wir beobachten, was der Dichter pse_155.002 an dieser Stelle mit einer solchen Formel erreicht, warum pse_155.003 er sie verwendet, aus welcher inneren Haltung, ob es ihm pse_155.004 gelingt, sie wieder mit innerem Gehalt aufzufüllen oder ob pse_155.005 sie wirklich bloße Schablone bleibt, erst dann kommen wir pse_155.006 der künstlerischen Eigenart des Gedichts näher. Zugleich pse_155.007 aber haben wir eine weitere Einsicht in das wirkliche Leben pse_155.008 solcher Formeln gewonnen.
pse_155.009 Damit berühren wir den entgegengesetzten Vorgang im pse_155.010 Sprachleben. Worte und Fügungen können zwar verblassen pse_155.011 und jeden Stilwert verlieren, sie können aber auch wieder pse_155.012 aufblühen und den Stilwert zurückgewinnen oder einen neuen pse_155.013 entfalten: die Aktualisierung der Stilwerte. Es gehört zu den pse_155.014 großen Geheimnissen des Dichters, daß er aus der vom Alltag pse_155.015 angekränkelten Sprache wieder Fülle und Tiefe herausholt, pse_155.016 daß unter seinen Händen die Sprache wieder wie im pse_155.017 Ursprung alle Werte entfaltet und vor allem das Gemüt pse_155.018 durchscheinen läßt. Zunächst ein Beispiel. »Nochmals ward pse_155.019 es Licht und Finsternis, nochmals Tag und Nacht, nochmals pse_155.020 Nächte und Tage ...« (H. Broch, Tod des Vergil, S. 530). pse_155.021 Dadurch, daß die Gruppe »Tag und Nacht« scheinbar wiederholt pse_155.022 wird, aber nun im Plural, fällt diese Form auf, ihr Gehalt, pse_155.023 nämlich die Bezeichnung einer Mehrheit, drängt sich pse_155.024 auf, sie wird gerade auf den Singular hin in ihrer Eigenart pse_155.025 deutlich; wir erleben die Reihe der Tage und Nächte. Das pse_155.026 wirkt um so auffälliger, als die Reihenfolge der beiden Worte pse_155.027 umgestellt wird, wir werden dadurch um so aufmerksamer.
pse_155.028 Die Aktualisierung der Stilwerte kann auf verschiedene pse_155.029 Weise erreicht werden. Zunächst durch die Ausstrahlung. pse_155.030 Das heißt, ein stilwertiges Wort wirkt auf andere, folgende, pse_155.031 und hebt auch die wieder in den Bereich der Sprachkunst.
pse_155.032
Der Abend wiegte schon die Erdepse_155.033 Und an den Bergen hing die Nacht.
pse_155.034
(Goethe, Willkommen und Abschied)
pse_155.035
Das Wort »wiegte« wirkt hier auf das schon eher verflachte pse_155.036 »hing«, und dieses gewinnt dadurch neue Kräfte. Wichtiger pse_155.037 ist die Aktualisierung durch Einbettung: in einer stark gemüthaften
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Werk hin verfolgt. Erst wenn wir beobachten, was der Dichter pse_155.002
an dieser Stelle mit einer solchen Formel erreicht, warum pse_155.003
er sie verwendet, aus welcher inneren Haltung, ob es ihm pse_155.004
gelingt, sie wieder mit innerem Gehalt aufzufüllen oder ob pse_155.005
sie wirklich bloße Schablone bleibt, erst dann kommen wir pse_155.006
der künstlerischen Eigenart des Gedichts näher. Zugleich pse_155.007
aber haben wir eine weitere Einsicht in das wirkliche Leben pse_155.008
solcher Formeln gewonnen.
pse_155.009
Damit berühren wir den entgegengesetzten Vorgang im pse_155.010
Sprachleben. Worte und Fügungen können zwar verblassen pse_155.011
und jeden Stilwert verlieren, sie können aber auch wieder pse_155.012
aufblühen und den Stilwert zurückgewinnen oder einen neuen pse_155.013
entfalten: die Aktualisierung der Stilwerte. Es gehört zu den pse_155.014
großen Geheimnissen des Dichters, daß er aus der vom Alltag pse_155.015
angekränkelten Sprache wieder Fülle und Tiefe herausholt, pse_155.016
daß unter seinen Händen die Sprache wieder wie im pse_155.017
Ursprung alle Werte entfaltet und vor allem das Gemüt pse_155.018
durchscheinen läßt. Zunächst ein Beispiel. »Nochmals ward pse_155.019
es Licht und Finsternis, nochmals Tag und Nacht, nochmals pse_155.020
Nächte und Tage ...« (H. Broch, Tod des Vergil, S. 530). pse_155.021
Dadurch, daß die Gruppe »Tag und Nacht« scheinbar wiederholt pse_155.022
wird, aber nun im Plural, fällt diese Form auf, ihr Gehalt, pse_155.023
nämlich die Bezeichnung einer Mehrheit, drängt sich pse_155.024
auf, sie wird gerade auf den Singular hin in ihrer Eigenart pse_155.025
deutlich; wir erleben die Reihe der Tage und Nächte. Das pse_155.026
wirkt um so auffälliger, als die Reihenfolge der beiden Worte pse_155.027
umgestellt wird, wir werden dadurch um so aufmerksamer.
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Die Aktualisierung der Stilwerte kann auf verschiedene pse_155.029
Weise erreicht werden. Zunächst durch die Ausstrahlung. pse_155.030
Das heißt, ein stilwertiges Wort wirkt auf andere, folgende, pse_155.031
und hebt auch die wieder in den Bereich der Sprachkunst.
pse_155.032
Der Abend wiegte schon die Erde pse_155.033
Und an den Bergen hing die Nacht.
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(Goethe, Willkommen und Abschied)
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/171>, abgerufen am 22.11.2024.
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