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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Dichtung erfassen können; denn auch im schönen Sagen pse_154.002
und in der Anwendung der überlieferten Schmuckformen, pse_154.003
in der Absicht, neben allen anderen Werten auch die der pse_154.004
Schönheit der Form herauszustellen, lebt eine bestimmte innere pse_154.005
Haltung; etwa der ritterliche "hohe muot", die Eleganz, pse_154.006
das Höfische, in allem aber die Liebe zum Schönen, wenn auch pse_154.007
das, was man darunter verstand, sich ändern mochte. Und pse_154.008
auch der Dichter, der seine tiefen Erlebnisse ausdrücken pse_154.009
wollte, hat doch immer wieder sich auch an Muster gehalten, pse_154.010
überlieferte Formen aufgegriffen und umgegossen. Umgekehrt pse_154.011
bleiben wir mit einer Stilauffassung, die ausschließlich pse_154.012
das Moment der Wirkung durch schöne Formen sieht, pse_154.013
einerseits an der Oberfläche, andererseits werden wir mit ihr pse_154.014
auch früheren Gestalten, etwa einem Dante, den großen pse_154.015
Ritterdichtern, Calderon, Cervantes, Grimmelshausen, Gryphius pse_154.016
und Paul Gerhardt nicht voll gerecht.

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Die Verwendung schöner Stilformen in der Dichtung führt pse_154.018
zur Frage der Stilentwertung. Diese kann schon auf dem Wege pse_154.019
der Ökonomisierung eintreten. Worte, die zu bloßen Verständigungszeichen pse_154.020
im Alltag oder zu reinen Begriffszeichen pse_154.021
werden, verlieren die Fülle des Gehaltes, vor allem die Gemütswerte, pse_154.022
die auch in ihnen ursprünglich enthalten waren. pse_154.023
Aber auch die sogenannten Stilfiguren und die noch später pse_154.024
zu betrachtenden topoi, geprägte Bilder und Formeln nämlich, pse_154.025
die an gewissen Stellen von Dichtungen nach der früheren pse_154.026
Poetik beinahe verpflichtend waren, verflachen bei pse_154.027
dauernder Verwendung und verlieren damit die ästhetischen pse_154.028
Werte. Man muß sich klar sein, daß solche Stilfiguren ursprünglich pse_154.029
keine Formeln waren, sondern schöpferische Gestaltung pse_154.030
des Schönen. Erst als sie Tradition und dichterisches pse_154.031
Gebrauchsgut wurden, begannen sie zu verblassen. Das war pse_154.032
für Dichterlinge gefährlich; denn ihr "Verwenden" gab nie pse_154.033
und nimmer ein Gedicht. Daraus erhebt sich eine Frage, die pse_154.034
bei der Beurteilung solcher Figuren in einem konkreten pse_154.035
Dichtwerk immer gestellt werden muß. Man gewinnt nichts pse_154.036
für die Erkenntnis des Wertes einer Dichtung, wenn man pse_154.037
solche Figuren aufdeckt, registriert, auf ihren Ursprung zurückführt pse_154.038
und ihre Verwendung bis zu dem betreffenden

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Dichtung erfassen können; denn auch im schönen Sagen pse_154.002
und in der Anwendung der überlieferten Schmuckformen, pse_154.003
in der Absicht, neben allen anderen Werten auch die der pse_154.004
Schönheit der Form herauszustellen, lebt eine bestimmte innere pse_154.005
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einerseits an der Oberfläche, andererseits werden wir mit ihr pse_154.014
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Ritterdichtern, Calderón, Cervantes, Grimmelshausen, Gryphius pse_154.016
und Paul Gerhardt nicht voll gerecht.

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Die Verwendung schöner Stilformen in der Dichtung führt pse_154.018
zur Frage der Stilentwertung. Diese kann schon auf dem Wege pse_154.019
der Ökonomisierung eintreten. Worte, die zu bloßen Verständigungszeichen pse_154.020
im Alltag oder zu reinen Begriffszeichen pse_154.021
werden, verlieren die Fülle des Gehaltes, vor allem die Gemütswerte, pse_154.022
die auch in ihnen ursprünglich enthalten waren. pse_154.023
Aber auch die sogenannten Stilfiguren und die noch später pse_154.024
zu betrachtenden topoi, geprägte Bilder und Formeln nämlich, pse_154.025
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Poetik beinahe verpflichtend waren, verflachen bei pse_154.027
dauernder Verwendung und verlieren damit die ästhetischen pse_154.028
Werte. Man muß sich klar sein, daß solche Stilfiguren ursprünglich pse_154.029
keine Formeln waren, sondern schöpferische Gestaltung pse_154.030
des Schönen. Erst als sie Tradition und dichterisches pse_154.031
Gebrauchsgut wurden, begannen sie zu verblassen. Das war pse_154.032
für Dichterlinge gefährlich; denn ihr »Verwenden« gab nie pse_154.033
und nimmer ein Gedicht. Daraus erhebt sich eine Frage, die pse_154.034
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Dichtwerk immer gestellt werden muß. Man gewinnt nichts pse_154.036
für die Erkenntnis des Wertes einer Dichtung, wenn man pse_154.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/170>, abgerufen am 28.04.2024.