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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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oder Lesers zu wirken. Das "delectare" ist hier deutlich. Wir pse_153.002
müssen uns klar sein, daß wir hier die Stilauffassung der pse_153.003
Dichtungslehre bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vor uns pse_153.004
haben. Aber auch heute ist diese Auffassung noch durchaus pse_153.005
anzutreffen. Die wirkungsvolle Anwendung der sprachlichen pse_153.006
Schmuckformen, wie sie das System der Rhetorik schon im pse_153.007
späten Altertum ausgebildet hat, ist Stilkunst. Wir fragen uns, pse_153.008
was soll da unsere Auffassung, daß in der Sprachkunst eine pse_153.009
innere Haltung des Menschen sich offenbare? Hat eine solche pse_153.010
Stilauffassung für die ganze abendländische Epoche bis ins pse_153.011
späte 18. Jahrhundert einen Sinn oder nur für die knappen pse_153.012
letzten zwei Jahrhunderte? Da hilft uns die Bemerkung weiter, pse_153.013
die der spanische Fürst Don Juan Manuel um 1330 über pse_153.014
seine Erzählungssammlung "El conde Lucanor" machte: er pse_153.015
habe dieses Buch geschrieben, indem er es aus den schönsten pse_153.016
Worten zusammensetzte, die er finden konnte. Zweifellos pse_153.017
hätten die Ritterdichter des Mittelalters und die höfischen pse_153.018
Dichter des Barocks, aber schon die spätrömischen Dichter pse_153.019
dasselbe von ihren Dichtungen sagen können. Das geht gewiß pse_153.020
auf die "schöne", also aufs Gemüt in bestimmter Weise wirkende pse_153.021
Form der Dichtung. Aber prägt sich in solchem Wollen pse_153.022
nicht auch eine innere Haltung aus? Spüren wir da nicht, pse_153.023
daß diese Dichter aus einer ganz bestimmten Gemütslage, pse_153.024
eben als bewußte Dichter, schaffen? Prägt sich in den steiffeierlichen pse_153.025
Versen Weckherlins und den spielerischen Gedichten pse_153.026
Harsdörffers, in der immer wiederholten Kunst des pse_153.027
Reim- und Strophenbaus des älteren Reimar usw. nicht auch pse_153.028
eine bestimmte Haltung der Kultiviertheit, der Eleganz, der pse_153.029
Gehobenheit aus? Es ist kaum anzunehmen, daß diese Dichter pse_153.030
rein rationalistisch Schmuckformen zusammengefügt haben. pse_153.031
Es hat sich also weniger an der Dichtung als an der Betrachtungsweise pse_153.032
geändert. Freilich war diese Änderung dadurch pse_153.033
bedingt, daß seit dem Sturm und Drang, also allgemeiner: pse_153.034
seit den Anfängen der gesamteuropäischen Romantik in der pse_153.035
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Dichten nicht mehr so pse_153.036
sehr im schönen sprachlichen Formen als im Gestalten innerer pse_153.037
Erlebnisse gesehen wurde. Es scheint also doch, daß pse_153.038
wir mit der hier dargelegten Stilauffassung auch die frühere

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oder Lesers zu wirken. Das »delectare« ist hier deutlich. Wir pse_153.002
müssen uns klar sein, daß wir hier die Stilauffassung der pse_153.003
Dichtungslehre bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vor uns pse_153.004
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späte 18. Jahrhundert einen Sinn oder nur für die knappen pse_153.012
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habe dieses Buch geschrieben, indem er es aus den schönsten pse_153.016
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Dichter des Barocks, aber schon die spätrömischen Dichter pse_153.019
dasselbe von ihren Dichtungen sagen können. Das geht gewiß pse_153.020
auf die »schöne«, also aufs Gemüt in bestimmter Weise wirkende pse_153.021
Form der Dichtung. Aber prägt sich in solchem Wollen pse_153.022
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eben als bewußte Dichter, schaffen? Prägt sich in den steiffeierlichen pse_153.025
Versen Weckherlins und den spielerischen Gedichten pse_153.026
Harsdörffers, in der immer wiederholten Kunst des pse_153.027
Reim- und Strophenbaus des älteren Reimar usw. nicht auch pse_153.028
eine bestimmte Haltung der Kultiviertheit, der Eleganz, der pse_153.029
Gehobenheit aus? Es ist kaum anzunehmen, daß diese Dichter pse_153.030
rein rationalistisch Schmuckformen zusammengefügt haben. pse_153.031
Es hat sich also weniger an der Dichtung als an der Betrachtungsweise pse_153.032
geändert. Freilich war diese Änderung dadurch pse_153.033
bedingt, daß seit dem Sturm und Drang, also allgemeiner: pse_153.034
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zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Dichten nicht mehr so pse_153.036
sehr im schönen sprachlichen Formen als im Gestalten innerer pse_153.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/169>, abgerufen am 27.04.2024.