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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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ein Lehrvortrag usw. Wir nennen diese nach Zwecken und pse_152.002
ihren entsprechenden Normen verschiedenen sprachlichen pse_152.003
Gestaltungen Darstellungsweisen. Wir wollen mit der Sprache pse_152.004
verschiedene Wirkungen erzielen. Nun aber kann die Wirkung pse_152.005
eine sachliche sein, wie bei diesen Darstellungsweisen; pse_152.006
aber es gibt auch eine andere: die auf den Menschen als pse_152.007
ganzen gerichtete, die sein Gemüt ansprechen will. Damit pse_152.008
nähern wir uns den Fragen nach dem Stil. Soweit es sich pse_152.009
darum handelt, eine solche gemüthafte Wirkung durch die pse_152.010
gesprochene Sprache zu erreichen, hat sich schon im Altertum pse_152.011
eine bestimmte Lehre entwickelt: die Rhetorik. Der Redner pse_152.012
will das Gemüt des Menschen auf die verschiedenste pse_152.013
Weise, zu verschiedenen Zwecken und mit verschiedenen pse_152.014
Mitteln erregen. "Es ist die Intension des Rhetors, daß er im pse_152.015
Unterschied von dem dichterischen Gestalter mit Sprache pse_152.016
eine Wirkung erzielen und zu diesem Zweck mehr überreden pse_152.017
als überzeugen, mehr hinreißen, berauschen und bezaubern pse_152.018
möchte, als magisch eine dichterische Welt erschaffen" pse_152.019
(Strich). Man hat die Sprache des Rhetors als pathetisch pse_152.020
oder emphatisch bezeichnet. Man versteht aber unter Pathetik pse_152.021
vor allem die sprachliche Gestaltung unter einer erhöhten pse_152.022
Gefühlslage, mit Emphase aber die bewußte Verwendung pse_152.023
bestimmter sprachlicher Formen, etwa der Häufung, Wiederholung pse_152.024
usw., um solche Wirkung zu erzielen. Schon in pse_152.025
dieser Unterscheidung vermischen sich die zwei Gesichtspunkte pse_152.026
von Stil und Darstellungsweise. Es ist bekannt, pse_152.027
daß seit dem Altertum ein ganzes System von Redefiguren pse_152.028
mit einer Fülle von Fachausdrücken ausgebaut und klassifiziert pse_152.029
worden ist. Diese Ausdrücke werden nun nicht bloß in den pse_152.030
Lehrbüchern der Redekunst bis weit in die Neuzeit verwendet, pse_152.031
sondern auch in den Stillehren. Die Poetiken seit dem Hellenismus pse_152.032
über die römische Kaiserzeit und über das Mittelalter pse_152.033
bis in die Renaissance und in das Barockzeitalter gebrauchen pse_152.034
ebenfalls diese Ausdrücke und Formen. Mit anderen Worten: pse_152.035
wir sehen hier, wie die Wirkungslehre der Rhetorik mit der pse_152.036
sogenannten Stilistik als Wirkungslehre der geschriebenen pse_152.037
Sprache zusammengeht. Stil ist nach dieser Auffassung sprachliche pse_152.038
Gestaltung mit dem Zweck, auf das Gemüt des Hörers

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ganzen gerichtete, die sein Gemüt ansprechen will. Damit pse_152.008
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eine bestimmte Lehre entwickelt: die Rhetorik. Der Redner pse_152.012
will das Gemüt des Menschen auf die verschiedenste pse_152.013
Weise, zu verschiedenen Zwecken und mit verschiedenen pse_152.014
Mitteln erregen. »Es ist die Intension des Rhetors, daß er im pse_152.015
Unterschied von dem dichterischen Gestalter mit Sprache pse_152.016
eine Wirkung erzielen und zu diesem Zweck mehr überreden pse_152.017
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möchte, als magisch eine dichterische Welt erschaffen« pse_152.019
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oder emphatisch bezeichnet. Man versteht aber unter Pathetik pse_152.021
vor allem die sprachliche Gestaltung unter einer erhöhten pse_152.022
Gefühlslage, mit Emphase aber die bewußte Verwendung pse_152.023
bestimmter sprachlicher Formen, etwa der Häufung, Wiederholung pse_152.024
usw., um solche Wirkung zu erzielen. Schon in pse_152.025
dieser Unterscheidung vermischen sich die zwei Gesichtspunkte pse_152.026
von Stil und Darstellungsweise. Es ist bekannt, pse_152.027
daß seit dem Altertum ein ganzes System von Redefiguren pse_152.028
mit einer Fülle von Fachausdrücken ausgebaut und klassifiziert pse_152.029
worden ist. Diese Ausdrücke werden nun nicht bloß in den pse_152.030
Lehrbüchern der Redekunst bis weit in die Neuzeit verwendet, pse_152.031
sondern auch in den Stillehren. Die Poetiken seit dem Hellenismus pse_152.032
über die römische Kaiserzeit und über das Mittelalter pse_152.033
bis in die Renaissance und in das Barockzeitalter gebrauchen pse_152.034
ebenfalls diese Ausdrücke und Formen. Mit anderen Worten: pse_152.035
wir sehen hier, wie die Wirkungslehre der Rhetorik mit der pse_152.036
sogenannten Stilistik als Wirkungslehre der geschriebenen pse_152.037
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Gestaltung mit dem Zweck, auf das Gemüt des Hörers

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/168>, abgerufen am 27.04.2024.