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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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als Gestaltung unserer Erfahrungswelt. Das heißt: wir pse_151.002
schauen vor allem auf den Gehalt der Worte und Formen, pse_151.003
auf den Sinn von Wortfügungen und größeren Zusammenhängen. pse_151.004
Sprache ist aber jederzeit grundsätzlich etwas Hörbares. pse_151.005
Die Schrift ist eine sekundäre Entwicklung. Sie ist mit pse_151.006
der Notenschrift zu vergleichen, an der wir ja auch nicht die pse_151.007
Musik haben. Besonders Dichtungen drängen danach, gehört pse_151.008
zu werden, wenn sie ganz erfaßt werden sollen. Man liest pse_151.009
laut oder hört, oder man weckt Hörvorstellungen beim pse_151.010
stillen Lesen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man in einer pse_151.011
Dichtung plötzlich Neues und bisher nie Erfaßtes, neue Gedanken pse_151.012
und Zusammenhänge vernimmt, wenn man sie laut pse_151.013
liest oder vorgelesen bekommt. Das ist ein Beweis, daß im pse_151.014
Sprachlichen mehr liegt als bloß das, was man findet, wenn pse_151.015
man sie nur als Gestaltung der Erfahrungswelt sieht. Das in pse_151.016
der Sprache Hörbare ist von Geräuschen der Außenwelt und pse_151.017
von den Tönen in der Musik dadurch verschieden, daß es pse_151.018
ganz bestimmte artikulierte Laute sind und der Zusammenhang, pse_151.019
die Fügung solcher Laute sich auch von allen anderen pse_151.020
Geräuschen oder musikalischen Folgen deutlich unterscheidet. pse_151.021
Wir müssen also die Sprache auch als Lautung betrachten pse_151.022
und zu erfassen suchen, was in dieser Blickrichtung an ihr pse_151.023
Stilhaftes zu finden ist.

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Mit der Unterscheidung von Elementen und höheren pse_151.025
Wirkungszusammenhängen und mit den zwei Blickrichtungen pse_151.026
auf die Sprache als Gestaltung der Erfahrungswelt pse_151.027
und auf die Sprache als Lautung sind wir imstande, die Stilmöglichkeiten pse_151.028
der Sprache zu überblicken.

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Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, müssen noch zwei pse_151.030
andere Betrachtungen eingeschoben werden. Man sagt oft, pse_151.031
Stil sei das Zweckvolle und Schöne an der Sprache. Hier pse_151.032
werden zwei verschiedene Blickweisen zusammengebunden: pse_151.033
die nach dem Zweck und die nach der Schönheit. Wir pse_151.034
haben schon gesehen (S. 28 f.), daß sich bestimmte Normen pse_151.035
sprachlicher Gestaltung ausbilden können, je nach dem Zweck, pse_151.036
den wir mit ihr verfolgen: ein Geschäftsbrief hat andere pse_151.037
sprachliche Normen als eine Kanzelrede, eine Abhandlung pse_151.038
über Logik andere als ein Protokoll, ein Gebet andere als

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als Gestaltung unserer Erfahrungswelt. Das heißt: wir pse_151.002
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Sprachlichen mehr liegt als bloß das, was man findet, wenn pse_151.015
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Geräuschen oder musikalischen Folgen deutlich unterscheidet. pse_151.021
Wir müssen also die Sprache auch als Lautung betrachten pse_151.022
und zu erfassen suchen, was in dieser Blickrichtung an ihr pse_151.023
Stilhaftes zu finden ist.

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Mit der Unterscheidung von Elementen und höheren pse_151.025
Wirkungszusammenhängen und mit den zwei Blickrichtungen pse_151.026
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und auf die Sprache als Lautung sind wir imstande, die Stilmöglichkeiten pse_151.028
der Sprache zu überblicken.

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Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, müssen noch zwei pse_151.030
andere Betrachtungen eingeschoben werden. Man sagt oft, pse_151.031
Stil sei das Zweckvolle und Schöne an der Sprache. Hier pse_151.032
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die nach dem Zweck und die nach der Schönheit. Wir pse_151.034
haben schon gesehen (S. 28 f.), daß sich bestimmte Normen pse_151.035
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[151/0167] pse_151.001 als Gestaltung unserer Erfahrungswelt. Das heißt: wir pse_151.002 schauen vor allem auf den Gehalt der Worte und Formen, pse_151.003 auf den Sinn von Wortfügungen und größeren Zusammenhängen. pse_151.004 Sprache ist aber jederzeit grundsätzlich etwas Hörbares. pse_151.005 Die Schrift ist eine sekundäre Entwicklung. Sie ist mit pse_151.006 der Notenschrift zu vergleichen, an der wir ja auch nicht die pse_151.007 Musik haben. Besonders Dichtungen drängen danach, gehört pse_151.008 zu werden, wenn sie ganz erfaßt werden sollen. Man liest pse_151.009 laut oder hört, oder man weckt Hörvorstellungen beim pse_151.010 stillen Lesen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man in einer pse_151.011 Dichtung plötzlich Neues und bisher nie Erfaßtes, neue Gedanken pse_151.012 und Zusammenhänge vernimmt, wenn man sie laut pse_151.013 liest oder vorgelesen bekommt. Das ist ein Beweis, daß im pse_151.014 Sprachlichen mehr liegt als bloß das, was man findet, wenn pse_151.015 man sie nur als Gestaltung der Erfahrungswelt sieht. Das in pse_151.016 der Sprache Hörbare ist von Geräuschen der Außenwelt und pse_151.017 von den Tönen in der Musik dadurch verschieden, daß es pse_151.018 ganz bestimmte artikulierte Laute sind und der Zusammenhang, pse_151.019 die Fügung solcher Laute sich auch von allen anderen pse_151.020 Geräuschen oder musikalischen Folgen deutlich unterscheidet. pse_151.021 Wir müssen also die Sprache auch als Lautung betrachten pse_151.022 und zu erfassen suchen, was in dieser Blickrichtung an ihr pse_151.023 Stilhaftes zu finden ist. pse_151.024 Mit der Unterscheidung von Elementen und höheren pse_151.025 Wirkungszusammenhängen und mit den zwei Blickrichtungen pse_151.026 auf die Sprache als Gestaltung der Erfahrungswelt pse_151.027 und auf die Sprache als Lautung sind wir imstande, die Stilmöglichkeiten pse_151.028 der Sprache zu überblicken. pse_151.029 Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, müssen noch zwei pse_151.030 andere Betrachtungen eingeschoben werden. Man sagt oft, pse_151.031 Stil sei das Zweckvolle und Schöne an der Sprache. Hier pse_151.032 werden zwei verschiedene Blickweisen zusammengebunden: pse_151.033 die nach dem Zweck und die nach der Schönheit. Wir pse_151.034 haben schon gesehen (S. 28 f.), daß sich bestimmte Normen pse_151.035 sprachlicher Gestaltung ausbilden können, je nach dem Zweck, pse_151.036 den wir mit ihr verfolgen: ein Geschäftsbrief hat andere pse_151.037 sprachliche Normen als eine Kanzelrede, eine Abhandlung pse_151.038 über Logik andere als ein Protokoll, ein Gebet andere als

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/167>, abgerufen am 28.04.2024.