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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte pse_107.002
Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es pse_107.003
wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen, pse_107.004
in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche. pse_107.005
Denn auch -- und das ist die zweite Form -- in der pse_107.006
mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen pse_107.007
Idealismus, wird im Rückgriff auf eine höchste Wertwelt, pse_107.008
auf das Geistige überhaupt die Erschütterung überwunden.

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In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt pse_107.011
es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und pse_107.012
des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge. pse_107.013
Auf der einen Seite steht etwa Kleists "Penthesilea" in pse_107.014
ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus pse_107.015
führt, auf der anderen Goethes "Iphigenie", die am Ende pse_107.016
des vierten Aufzugs im Monolog Iphigeniens und dem darauf pse_107.017
folgenden Parzenlied die Tragik unbedingt streift, aber dann pse_107.018
zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je pse_107.019
mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über pse_107.020
der alten, zerstörten ermöglicht, benannt werden kann, je pse_107.021
klarer und greifbarer sie sich als erlösend offenbart, desto pse_107.022
mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus. pse_107.023
Das ist keine Frage des Werts, sondern eine verschiedener pse_107.024
dichterischer Möglichkeiten.

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Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen, pse_107.026
die uns im Lauf der Betrachtung ins Weltanschauliche geführt pse_107.027
hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer pse_107.028
Gestaltung bringt. Denn gerade die verschiedenen pse_107.029
möglichen Gewichtsverteilungen von Erschütterung und pse_107.030
Erhebung, entweder im Lauf der Handlung oder in bestimmtem pse_107.031
Zusammenklang, ergeben die verschiedensten Spielarten pse_107.032
dichterischer Anlage. Aber noch etwas anderes ist zu beachten. pse_107.033
Es gibt Menschen und Zeiten, die kaum solche tiefen pse_107.034
Erschütterungen erleben, denen also Tragik und Tragödiendichtung pse_107.035
fernerstehen. Andererseits vermögen oft Zeiten pse_107.036
und Menschen Weltzusammenhänge tragisch zu erleben, die pse_107.037
anderen nicht so erscheinen, und umgekehrt. Gottsched pse_107.038
deutet den Ödipus in seiner "Kritischen Dichtkunst" in einer

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von Gethsemane und Golgatha heraustrete. Freilich: der echte pse_107.002
Christ vermag die Erschütterung zu durchschreiten. Aber es pse_107.003
wäre wohl eine Verengung, wenn man allen Dichtungen, pse_107.004
in denen die Erschütterung überwunden würde, Tragik abspräche. pse_107.005
Denn auch — und das ist die zweite Form — in der pse_107.006
mehr philosophischen Tragödie, besonders in der des deutschen pse_107.007
Idealismus, wird im Rückgriff auf eine höchste Wertwelt, pse_107.008
auf das Geistige überhaupt die Erschütterung überwunden.

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In der Wirklichkeit der dichterischen Gegebenheiten gibt pse_107.011
es die reinen Fälle des Verzweifelns, des Durchhaltens und pse_107.012
des Durchschreitens nicht allzu oft. Es gibt zahllose Übergänge. pse_107.013
Auf der einen Seite steht etwa Kleists »Penthesilea« in pse_107.014
ihrer radikalen Tragik, die aber durchaus nicht in den Nihilismus pse_107.015
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zur vollen und beglückenden Lösung hindurchschreitet. Je pse_107.019
mehr die neue Weltordnung, die eine neue Sinngebung über pse_107.020
der alten, zerstörten ermöglicht, benannt werden kann, je pse_107.021
klarer und greifbarer sie sich als erlösend offenbart, desto pse_107.022
mehr führt eine solche Dichtung über reine Tragik hinaus. pse_107.023
Das ist keine Frage des Werts, sondern eine verschiedener pse_107.024
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Wir erkennen an ihnen, wie uns die Frage des Tragischen, pse_107.026
die uns im Lauf der Betrachtung ins Weltanschauliche geführt pse_107.027
hat, wieder zurück zu verschiedenen Arten dichterischer pse_107.028
Gestaltung bringt. Denn gerade die verschiedenen pse_107.029
möglichen Gewichtsverteilungen von Erschütterung und pse_107.030
Erhebung, entweder im Lauf der Handlung oder in bestimmtem pse_107.031
Zusammenklang, ergeben die verschiedensten Spielarten pse_107.032
dichterischer Anlage. Aber noch etwas anderes ist zu beachten. pse_107.033
Es gibt Menschen und Zeiten, die kaum solche tiefen pse_107.034
Erschütterungen erleben, denen also Tragik und Tragödiendichtung pse_107.035
fernerstehen. Andererseits vermögen oft Zeiten pse_107.036
und Menschen Weltzusammenhänge tragisch zu erleben, die pse_107.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/123>, abgerufen am 03.05.2024.