pse_108.001 uns heute ganz fremden Weise: er sei weder ganz schuldig pse_108.002 noch ganz unschuldig, also ein Charakter von mittlerer Gattung pse_108.003 (damit nimmt Gottsched einen Begriff des Aristoteles pse_108.004 auf); seine Laster stürzten ihn ins Unglück, nämlich seine pse_108.005 Hitzigkeit. Und dann wörtlich: "Denn hätte er nur niemanden pse_108.006 erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolgt. Er hätte pse_108.007 sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten sollen: nachdem pse_108.008 ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte." pse_108.009 Wie anders hat noch der Barock mit "terreur" und "admiration" pse_108.010 den Ödipus erfahren und wie anders wir. Der pse_108.011 Rationalismus der Aufklärung schafft dem Menschen so pse_108.012 viele Sicherungen, daß er kaum mehr durch Abgründe erschüttert pse_108.013 wird, und wenn die Gefahr dazu bestünde, sichert pse_108.014 er sich eben durch Vernunftgründe und moralische Regeln. pse_108.015 Auch hier wieder greifen wir die geschichtliche Bedingtheit pse_108.016 auch so allgemein menschlicher Erlebnisse.
pse_108.017 Die Frage nach dem Sinn solcher tragischen Erschütterungen pse_108.018 und ihres Bestehens ist eigentlich schon durch die Betrachtung pse_108.019 des Bestehens beantwortet. Tragik ergreift das pse_108.020 menschliche Gemüt mit aller Macht. Es ist vielleicht zu wenig, pse_108.021 wenn man nur von einer großen Trauer spricht, die uns überkommt. pse_108.022 Es greift tiefer und wirkt bedrohlicher. Es geht um pse_108.023 letzte Bestände des Menschen, und damit reicht eben Tragik pse_108.024 schon ins Religiöse. Der Mensch hat den hohen geistigen pse_108.025 Drang, alles ihn Treffende auf seinen Sinn hin zu ordnen und pse_108.026 zu bewältigen. In diesen Fragenbereich greift der Dichter pse_108.027 des Tragischen und wird damit vor eine Entscheidung gestellt: pse_108.028 bleibt die Welt auch im Scheitern sinnvoll oder verliert pse_108.029 sie den Sinn? Dadurch aber werden wir Menschen, die pse_108.030 wir tragische Erschütterungen erleben, in höchste Seinsbereiche pse_108.031 geführt. In diesen aufwühlenden Erlebnissen erahnen pse_108.032 wir letzte Zusammenhänge und Höhen. Und in diesem Erahnen pse_108.033 wächst dem Menschen innere Kraft und großer geistiger pse_108.034 und seelischer Reichtum zu. Das Erleben des Tragischen pse_108.035 in der Dichtung führt uns damit überhaupt dem Lebenssinn pse_108.036 der Dichtung nahe.
pse_108.001 uns heute ganz fremden Weise: er sei weder ganz schuldig pse_108.002 noch ganz unschuldig, also ein Charakter von mittlerer Gattung pse_108.003 (damit nimmt Gottsched einen Begriff des Aristoteles pse_108.004 auf); seine Laster stürzten ihn ins Unglück, nämlich seine pse_108.005 Hitzigkeit. Und dann wörtlich: »Denn hätte er nur niemanden pse_108.006 erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolgt. Er hätte pse_108.007 sich aber billig vor allen Todtschlägen hüten sollen: nachdem pse_108.008 ihm das Orakel eine so deutliche Weissagung gegeben hatte.« pse_108.009 Wie anders hat noch der Barock mit »terreur« und »admiration« pse_108.010 den Ödipus erfahren und wie anders wir. Der pse_108.011 Rationalismus der Aufklärung schafft dem Menschen so pse_108.012 viele Sicherungen, daß er kaum mehr durch Abgründe erschüttert pse_108.013 wird, und wenn die Gefahr dazu bestünde, sichert pse_108.014 er sich eben durch Vernunftgründe und moralische Regeln. pse_108.015 Auch hier wieder greifen wir die geschichtliche Bedingtheit pse_108.016 auch so allgemein menschlicher Erlebnisse.
pse_108.017 Die Frage nach dem Sinn solcher tragischen Erschütterungen pse_108.018 und ihres Bestehens ist eigentlich schon durch die Betrachtung pse_108.019 des Bestehens beantwortet. Tragik ergreift das pse_108.020 menschliche Gemüt mit aller Macht. Es ist vielleicht zu wenig, pse_108.021 wenn man nur von einer großen Trauer spricht, die uns überkommt. pse_108.022 Es greift tiefer und wirkt bedrohlicher. Es geht um pse_108.023 letzte Bestände des Menschen, und damit reicht eben Tragik pse_108.024 schon ins Religiöse. Der Mensch hat den hohen geistigen pse_108.025 Drang, alles ihn Treffende auf seinen Sinn hin zu ordnen und pse_108.026 zu bewältigen. In diesen Fragenbereich greift der Dichter pse_108.027 des Tragischen und wird damit vor eine Entscheidung gestellt: pse_108.028 bleibt die Welt auch im Scheitern sinnvoll oder verliert pse_108.029 sie den Sinn? Dadurch aber werden wir Menschen, die pse_108.030 wir tragische Erschütterungen erleben, in höchste Seinsbereiche pse_108.031 geführt. In diesen aufwühlenden Erlebnissen erahnen pse_108.032 wir letzte Zusammenhänge und Höhen. Und in diesem Erahnen pse_108.033 wächst dem Menschen innere Kraft und großer geistiger pse_108.034 und seelischer Reichtum zu. Das Erleben des Tragischen pse_108.035 in der Dichtung führt uns damit überhaupt dem Lebenssinn pse_108.036 der Dichtung nahe.
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Wie anders hat noch der Barock mit »terreur« und »admiration« pse_108.010
den Ödipus erfahren und wie anders wir. Der pse_108.011
Rationalismus der Aufklärung schafft dem Menschen so pse_108.012
viele Sicherungen, daß er kaum mehr durch Abgründe erschüttert pse_108.013
wird, und wenn die Gefahr dazu bestünde, sichert pse_108.014
er sich eben durch Vernunftgründe und moralische Regeln. pse_108.015
Auch hier wieder greifen wir die geschichtliche Bedingtheit pse_108.016
auch so allgemein menschlicher Erlebnisse.
pse_108.017
Die Frage nach dem Sinn solcher tragischen Erschütterungen pse_108.018
und ihres Bestehens ist eigentlich schon durch die Betrachtung pse_108.019
des Bestehens beantwortet. Tragik ergreift das pse_108.020
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schon ins Religiöse. Der Mensch hat den hohen geistigen pse_108.025
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wir tragische Erschütterungen erleben, in höchste Seinsbereiche pse_108.031
geführt. In diesen aufwühlenden Erlebnissen erahnen pse_108.032
wir letzte Zusammenhänge und Höhen. Und in diesem Erahnen pse_108.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/124>, abgerufen am 23.11.2024.
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