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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Mensch in der Erschütterung sein Leben, das Leben überhaupt. pse_106.002
Nietzsche hat davon gesprochen, daß im tragischen pse_106.003
Erfahren das dionysische Lebensgefühl wachse. Das großartige pse_106.004
Beispiel bleibt eben Ödipus: er bricht an der Furchtbarkeit pse_106.005
dessen, was ihn getroffen hat, nicht zusammen, sondern pse_106.006
offenbart im Richteramt gegen sich die Größe des pse_106.007
Menschentums, das die Schuld anerkennt, aber an den Göttern, pse_106.008
die sie verhängt haben, und an sich selbst verzweifelt pse_106.009
er nicht. Und uns, den von seinem Leiden Erschütterten, pse_106.010
widerfährt dasselbe. Im Scheitern und allein durch dieses pse_106.011
Scheitern, durch das Schicksal der Vernichtung ergreift uns pse_106.012
die Idee und Höhe des Menschentums. Damit aber verliert pse_106.013
tragische Erschütterung, verlieren Scheitern und Untergang pse_106.014
ihre Sinnlosigkeit: ein neuer Sinnbereich öffnet sich: nur pse_106.015
so Wesen und Möglichkeiten des Menschentums zu erleben. pse_106.016
In dieser unbedingten Doppelheit der Erschütterung und pse_106.017
ihres Durchhaltens liegt wohl die eigentliche Tragik.

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3. Das Durchschreiten der Erschütterung. Hier wird die pse_106.019
Erschütterung in einem anderen überwunden und zurückgelassen. pse_106.020
Man zieht sich aus der Erschütterung in einen Bereich pse_106.021
zurück, der uns über das Tragische hinauskommen läßt. pse_106.022
Wir überwinden die Tragik, indem wir sie verlassen. Schon pse_106.023
in der griechischen Tragödiendichtung finden wir diese Art pse_106.024
der Tragik: aus Scheitern und Leiden wird neue Ordnung pse_106.025
und Recht. Das gestaltet Aischylos in den "Eumeniden" und pse_106.026
Sophokles im "Ödipus auf Kolonos". Wir erkennen, daß pse_106.027
hier tragische Erschütterung bestanden wird durch die Ausrichtung pse_106.028
auf ein Jenseits: Himmel, Gott, Positivität der göttlichen pse_106.029
Seinsordnung, eine Wertwelt, hohe Ideen, das Geistige pse_106.030
überhaupt. Das entfaltet sich vor allem in zwei Formen der pse_106.031
Tragödie. Zunächst in der christlichen. Über die Möglichkeit pse_106.032
der Tragik im Rahmen christlicher Weltanschauung gehen die pse_106.033
Meinungen auseinander. Die einen halten es für unmöglich, pse_106.034
daß eine existenzbedrohende Lage und die daraus erwachsende pse_106.035
Erschütterung, in dem dem Menschen alles Jenseitige pse_106.036
schwinde, mit dem Christentum vereinbar sei. Andere betonen, pse_106.037
daß es auch im Christentum die tiefe Erschütterung pse_106.038
der Gottverlassenheit gebe, wie sie ja schon in den Berichten

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Mensch in der Erschütterung sein Leben, das Leben überhaupt. pse_106.002
Nietzsche hat davon gesprochen, daß im tragischen pse_106.003
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offenbart im Richteramt gegen sich die Größe des pse_106.007
Menschentums, das die Schuld anerkennt, aber an den Göttern, pse_106.008
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Scheitern, durch das Schicksal der Vernichtung ergreift uns pse_106.012
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In dieser unbedingten Doppelheit der Erschütterung und pse_106.017
ihres Durchhaltens liegt wohl die eigentliche Tragik.

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Erschütterung in einem anderen überwunden und zurückgelassen. pse_106.020
Man zieht sich aus der Erschütterung in einen Bereich pse_106.021
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Tragödie. Zunächst in der christlichen. Über die Möglichkeit pse_106.032
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Meinungen auseinander. Die einen halten es für unmöglich, pse_106.034
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Erschütterung, in dem dem Menschen alles Jenseitige pse_106.036
schwinde, mit dem Christentum vereinbar sei. Andere betonen, pse_106.037
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[106/0122] pse_106.001 Mensch in der Erschütterung sein Leben, das Leben überhaupt. pse_106.002 Nietzsche hat davon gesprochen, daß im tragischen pse_106.003 Erfahren das dionysische Lebensgefühl wachse. Das großartige pse_106.004 Beispiel bleibt eben Ödipus: er bricht an der Furchtbarkeit pse_106.005 dessen, was ihn getroffen hat, nicht zusammen, sondern pse_106.006 offenbart im Richteramt gegen sich die Größe des pse_106.007 Menschentums, das die Schuld anerkennt, aber an den Göttern, pse_106.008 die sie verhängt haben, und an sich selbst verzweifelt pse_106.009 er nicht. Und uns, den von seinem Leiden Erschütterten, pse_106.010 widerfährt dasselbe. Im Scheitern und allein durch dieses pse_106.011 Scheitern, durch das Schicksal der Vernichtung ergreift uns pse_106.012 die Idee und Höhe des Menschentums. Damit aber verliert pse_106.013 tragische Erschütterung, verlieren Scheitern und Untergang pse_106.014 ihre Sinnlosigkeit: ein neuer Sinnbereich öffnet sich: nur pse_106.015 so Wesen und Möglichkeiten des Menschentums zu erleben. pse_106.016 In dieser unbedingten Doppelheit der Erschütterung und pse_106.017 ihres Durchhaltens liegt wohl die eigentliche Tragik. pse_106.018 3. Das Durchschreiten der Erschütterung. Hier wird die pse_106.019 Erschütterung in einem anderen überwunden und zurückgelassen. pse_106.020 Man zieht sich aus der Erschütterung in einen Bereich pse_106.021 zurück, der uns über das Tragische hinauskommen läßt. pse_106.022 Wir überwinden die Tragik, indem wir sie verlassen. Schon pse_106.023 in der griechischen Tragödiendichtung finden wir diese Art pse_106.024 der Tragik: aus Scheitern und Leiden wird neue Ordnung pse_106.025 und Recht. Das gestaltet Aischylos in den »Eumeniden« und pse_106.026 Sophokles im »Ödipus auf Kolonos«. Wir erkennen, daß pse_106.027 hier tragische Erschütterung bestanden wird durch die Ausrichtung pse_106.028 auf ein Jenseits: Himmel, Gott, Positivität der göttlichen pse_106.029 Seinsordnung, eine Wertwelt, hohe Ideen, das Geistige pse_106.030 überhaupt. Das entfaltet sich vor allem in zwei Formen der pse_106.031 Tragödie. Zunächst in der christlichen. Über die Möglichkeit pse_106.032 der Tragik im Rahmen christlicher Weltanschauung gehen die pse_106.033 Meinungen auseinander. Die einen halten es für unmöglich, pse_106.034 daß eine existenzbedrohende Lage und die daraus erwachsende pse_106.035 Erschütterung, in dem dem Menschen alles Jenseitige pse_106.036 schwinde, mit dem Christentum vereinbar sei. Andere betonen, pse_106.037 daß es auch im Christentum die tiefe Erschütterung pse_106.038 der Gottverlassenheit gebe, wie sie ja schon in den Berichten

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/122>, abgerufen am 03.05.2024.