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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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auch jegliches Fehlen des Spielerischen, meist auch pse_096.002
das Lachen. Aber gleich hier erkennt man: diese Haltung pse_096.003
färbt auch auf die Welt ab, die in solcher Gestimmtheit aufgefaßt pse_096.004
wird. Der Volksmund sagt sehr richtig, man sehe die pse_096.005
Welt durch eine dunkle Brille.

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Eine Steigerung erfährt diese Haltung im Pathos. Das vielgebrauchte pse_096.007
Wort ist seit der Poetik des Aristoteles in der pse_096.008
Dichtungslehre üblich. Ursprünglich verbindet sich in ihm die pse_096.009
Vorstellung des Leidens und der Handlung: eine Begebenheit, pse_096.010
ein Unfall führt zum Leiden. Goethe versteht darunter schwere pse_096.011
sittliche Unfälle, wie sie etwa geradezu in einem Titel schon pse_096.012
ausgedrückt sein können ("Bruderzwist"). In der Tragödie ist pse_096.013
dann im Zuge der Verwesentlichung eine Steigerung davon pse_096.014
gestaltet: ein besonders hohes Leiden und ein ungeheurer pse_096.015
Fall. Der Tragödienheld ist also der von einem ungeheuren pse_096.016
Fall Betroffene. Erst daraus hat sich dann später der Begriff pse_096.017
ausgebildet, den wir heute als Pathos bezeichnen. Aus dem pse_096.018
Erleben solchen Pathos in der Tragödie ergab sich deutlich pse_096.019
eine bestimmte Haltung, in die wir durch solches Pathos versetzt pse_096.020
werden: eben das, was wir heute Pathos nennen, eine pse_096.021
starke Gehobenheit. Ursprünglich gehört das Wort also der pse_096.022
Kunst, vor allem der Bühne an. Daher kommt es, daß es auch pse_096.023
die Darstellungsart durch den Schauspieler bezeichnet, die uns pse_096.024
diesen ungeheuren Fall besonders eindringlich erleben lassen pse_096.025
kann. Von diesem Hintergrund und Sinn losgetrennt, entwickelt pse_096.026
sich dann eine bestimmte Art zu sprechen und sich pse_096.027
zu gebärden, die man pathetisch nennt und die dann hohl pse_096.028
wird, wenn kein tiefer Hintergrund mehr durchscheint: pse_096.029
falsches Pathos; dieses hat das Wort überhaupt etwas in Verruf pse_096.030
gebracht. Aber die pathetisch-gehobene Haltung, um die pse_096.031
sich auch Schiller als Theoretiker bemüht hat, besteht. Sie pse_096.032
bezeichnet immer eine bestimmte Höhe über dem Alltag, sie pse_096.033
kommt dem gesteigerten Menschen zu, der von dem bewegt pse_096.034
ist, was sein soll. Daher erwächst dem echten Pathos auch der pse_096.035
Charakter der Unbedingtheit.

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Daraus entspringt nun die Weltauffassung des Erhabenen. pse_096.037
Der pathetische Mensch oder der Mensch im Zustand des pse_096.038
Pathos sieht vor allem Weltzusammenhänge des Erhabenen,

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auch jegliches Fehlen des Spielerischen, meist auch pse_096.002
das Lachen. Aber gleich hier erkennt man: diese Haltung pse_096.003
färbt auch auf die Welt ab, die in solcher Gestimmtheit aufgefaßt pse_096.004
wird. Der Volksmund sagt sehr richtig, man sehe die pse_096.005
Welt durch eine dunkle Brille.

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Eine Steigerung erfährt diese Haltung im Pathos. Das vielgebrauchte pse_096.007
Wort ist seit der Poetik des Aristoteles in der pse_096.008
Dichtungslehre üblich. Ursprünglich verbindet sich in ihm die pse_096.009
Vorstellung des Leidens und der Handlung: eine Begebenheit, pse_096.010
ein Unfall führt zum Leiden. Goethe versteht darunter schwere pse_096.011
sittliche Unfälle, wie sie etwa geradezu in einem Titel schon pse_096.012
ausgedrückt sein können (»Bruderzwist«). In der Tragödie ist pse_096.013
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Erleben solchen Pathos in der Tragödie ergab sich deutlich pse_096.019
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starke Gehobenheit. Ursprünglich gehört das Wort also der pse_096.022
Kunst, vor allem der Bühne an. Daher kommt es, daß es auch pse_096.023
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falsches Pathos; dieses hat das Wort überhaupt etwas in Verruf pse_096.030
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sich auch Schiller als Theoretiker bemüht hat, besteht. Sie pse_096.032
bezeichnet immer eine bestimmte Höhe über dem Alltag, sie pse_096.033
kommt dem gesteigerten Menschen zu, der von dem bewegt pse_096.034
ist, was sein soll. Daher erwächst dem echten Pathos auch der pse_096.035
Charakter der Unbedingtheit.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/112>, abgerufen am 03.05.2024.