Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_095.001
vollständige und klare Übersicht zu schaffen, in deren Rahmen pse_095.002
dann mögliche Ergänzungen einbaubar sind. Denn es pse_095.003
scheint auch so, daß sich manche Auffassungen erst im Laufe pse_095.004
bestimmter Entwicklungen entfalten können, also von keinem pse_095.005
geschichtlichen Standpunkt aus jeweils eine absolute Vollständigkeit pse_095.006
zu erreichen ist.

pse_095.007
Man kann die möglichen dichterischen Weltauffassungen pse_095.008
vor allem von zwei Seiten sehen. Zunächst liegt diesen Auffassungen pse_095.009
als Unterlage eine innere Haltung des Menschen pse_095.010
zugrunde. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen bestimmter pse_095.011
innerer Angelegtheiten mit einer in sehr weitem Rahmen pse_095.012
bestimmt gearteten Welt. Es ist hier nicht die Frage, ob das pse_095.013
jeweils genau die bestimmte Haltung des Dichters oder des pse_095.014
Lesers oder einer Person in der Dichtung selbst ist, sondern pse_095.015
auch hier wieder treffen wir auf ein allgemein Menschliches, pse_095.016
das grundsätzlich möglich ist und hier im Gesamt des dichterischen pse_095.017
Werkes, nicht bloß aus seinem Gehalt, lebendig wird. pse_095.018
Aus dieser inneren Haltung baut sich eine bestimmte Weltsicht pse_095.019
auf. Damit ist nicht ein objektiver, realer Bestand gemeint, pse_095.020
sondern Weltaufbau im Geist. Unser Weltbild ist pse_095.021
immer nicht bloß durch reale Außenweltgegebenheiten bestimmt, pse_095.022
sondern aus geistiger Bewältigung dieser Gegebenheiten. pse_095.023
Weltauffassung oder Weltsicht enthält immer neben pse_095.024
verarbeiteten Gegebenheiten auch die Gestimmtheit, in der pse_095.025
und durch die die Verarbeitung vollzogen worden ist. Umgekehrt pse_095.026
kann dann diese Weltauffassung selbst wieder auf die pse_095.027
innere Haltung des Menschen einwirken.

pse_095.028
Im großen versuchen wir hier, diese Möglichkeiten auf pse_095.029
drei Grundgegebenheiten zurückzuführen: auf die Haltung pse_095.030
des Ernstes, der Heiterkeit und der betonten geistigen Überlegenheit.

pse_095.031
pse_095.032
Der Ernst

pse_095.033
Es ist nicht nötig, die innere Haltung des Ernstes, mit der pse_095.034
wir Erfahrungen machen, näher zu beschreiben. Jeder kann pse_095.035
sie an sich erfahren, der eine mehr, der andere weniger. Eine pse_095.036
gewisse Schwere und Getragenheit der Stimmung ist kennzeichnend,

pse_095.001
vollständige und klare Übersicht zu schaffen, in deren Rahmen pse_095.002
dann mögliche Ergänzungen einbaubar sind. Denn es pse_095.003
scheint auch so, daß sich manche Auffassungen erst im Laufe pse_095.004
bestimmter Entwicklungen entfalten können, also von keinem pse_095.005
geschichtlichen Standpunkt aus jeweils eine absolute Vollständigkeit pse_095.006
zu erreichen ist.

pse_095.007
Man kann die möglichen dichterischen Weltauffassungen pse_095.008
vor allem von zwei Seiten sehen. Zunächst liegt diesen Auffassungen pse_095.009
als Unterlage eine innere Haltung des Menschen pse_095.010
zugrunde. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen bestimmter pse_095.011
innerer Angelegtheiten mit einer in sehr weitem Rahmen pse_095.012
bestimmt gearteten Welt. Es ist hier nicht die Frage, ob das pse_095.013
jeweils genau die bestimmte Haltung des Dichters oder des pse_095.014
Lesers oder einer Person in der Dichtung selbst ist, sondern pse_095.015
auch hier wieder treffen wir auf ein allgemein Menschliches, pse_095.016
das grundsätzlich möglich ist und hier im Gesamt des dichterischen pse_095.017
Werkes, nicht bloß aus seinem Gehalt, lebendig wird. pse_095.018
Aus dieser inneren Haltung baut sich eine bestimmte Weltsicht pse_095.019
auf. Damit ist nicht ein objektiver, realer Bestand gemeint, pse_095.020
sondern Weltaufbau im Geist. Unser Weltbild ist pse_095.021
immer nicht bloß durch reale Außenweltgegebenheiten bestimmt, pse_095.022
sondern aus geistiger Bewältigung dieser Gegebenheiten. pse_095.023
Weltauffassung oder Weltsicht enthält immer neben pse_095.024
verarbeiteten Gegebenheiten auch die Gestimmtheit, in der pse_095.025
und durch die die Verarbeitung vollzogen worden ist. Umgekehrt pse_095.026
kann dann diese Weltauffassung selbst wieder auf die pse_095.027
innere Haltung des Menschen einwirken.

pse_095.028
Im großen versuchen wir hier, diese Möglichkeiten auf pse_095.029
drei Grundgegebenheiten zurückzuführen: auf die Haltung pse_095.030
des Ernstes, der Heiterkeit und der betonten geistigen Überlegenheit.

pse_095.031
pse_095.032
Der Ernst

pse_095.033
Es ist nicht nötig, die innere Haltung des Ernstes, mit der pse_095.034
wir Erfahrungen machen, näher zu beschreiben. Jeder kann pse_095.035
sie an sich erfahren, der eine mehr, der andere weniger. Eine pse_095.036
gewisse Schwere und Getragenheit der Stimmung ist kennzeichnend,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0111" n="95"/><lb n="pse_095.001"/>
vollständige und klare Übersicht zu schaffen, in deren Rahmen <lb n="pse_095.002"/>
dann mögliche Ergänzungen einbaubar sind. Denn es <lb n="pse_095.003"/>
scheint auch so, daß sich manche Auffassungen erst im Laufe <lb n="pse_095.004"/>
bestimmter Entwicklungen entfalten können, also von keinem <lb n="pse_095.005"/>
geschichtlichen Standpunkt aus jeweils eine absolute Vollständigkeit <lb n="pse_095.006"/>
zu erreichen ist.</p>
          <p><lb n="pse_095.007"/>
Man kann die möglichen dichterischen Weltauffassungen <lb n="pse_095.008"/>
vor allem von zwei Seiten sehen. Zunächst liegt diesen Auffassungen <lb n="pse_095.009"/>
als Unterlage eine innere Haltung des Menschen <lb n="pse_095.010"/>
zugrunde. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen bestimmter <lb n="pse_095.011"/>
innerer Angelegtheiten mit einer in sehr weitem Rahmen <lb n="pse_095.012"/>
bestimmt gearteten Welt. Es ist hier nicht die Frage, ob das <lb n="pse_095.013"/>
jeweils genau die bestimmte Haltung des Dichters oder des <lb n="pse_095.014"/>
Lesers oder einer Person in der Dichtung selbst ist, sondern <lb n="pse_095.015"/>
auch hier wieder treffen wir auf ein allgemein Menschliches, <lb n="pse_095.016"/>
das grundsätzlich möglich ist und hier im Gesamt des dichterischen <lb n="pse_095.017"/>
Werkes, nicht bloß aus seinem Gehalt, lebendig wird. <lb n="pse_095.018"/>
Aus dieser inneren Haltung baut sich eine bestimmte Weltsicht <lb n="pse_095.019"/>
auf. Damit ist nicht ein objektiver, realer Bestand gemeint, <lb n="pse_095.020"/>
sondern Weltaufbau im Geist. Unser Weltbild ist <lb n="pse_095.021"/>
immer nicht bloß durch reale Außenweltgegebenheiten bestimmt, <lb n="pse_095.022"/>
sondern aus geistiger Bewältigung dieser Gegebenheiten. <lb n="pse_095.023"/>
Weltauffassung oder Weltsicht enthält immer neben <lb n="pse_095.024"/>
verarbeiteten Gegebenheiten auch die Gestimmtheit, in der <lb n="pse_095.025"/>
und durch die die Verarbeitung vollzogen worden ist. Umgekehrt <lb n="pse_095.026"/>
kann dann diese Weltauffassung selbst wieder auf die <lb n="pse_095.027"/>
innere Haltung des Menschen einwirken.</p>
          <p><lb n="pse_095.028"/>
Im großen versuchen wir hier, diese Möglichkeiten auf <lb n="pse_095.029"/>
drei Grundgegebenheiten zurückzuführen: auf die Haltung <lb n="pse_095.030"/>
des Ernstes, der Heiterkeit und der betonten geistigen Überlegenheit.</p>
          <lb n="pse_095.031"/>
          <div n="3">
            <lb n="pse_095.032"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Der Ernst</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_095.033"/>
Es ist nicht nötig, die innere Haltung des Ernstes, mit der <lb n="pse_095.034"/>
wir Erfahrungen machen, näher zu beschreiben. Jeder kann <lb n="pse_095.035"/>
sie an sich erfahren, der eine mehr, der andere weniger. Eine <lb n="pse_095.036"/>
gewisse Schwere und Getragenheit der Stimmung ist kennzeichnend,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0111] pse_095.001 vollständige und klare Übersicht zu schaffen, in deren Rahmen pse_095.002 dann mögliche Ergänzungen einbaubar sind. Denn es pse_095.003 scheint auch so, daß sich manche Auffassungen erst im Laufe pse_095.004 bestimmter Entwicklungen entfalten können, also von keinem pse_095.005 geschichtlichen Standpunkt aus jeweils eine absolute Vollständigkeit pse_095.006 zu erreichen ist. pse_095.007 Man kann die möglichen dichterischen Weltauffassungen pse_095.008 vor allem von zwei Seiten sehen. Zunächst liegt diesen Auffassungen pse_095.009 als Unterlage eine innere Haltung des Menschen pse_095.010 zugrunde. Sie ergibt sich aus dem Zusammentreffen bestimmter pse_095.011 innerer Angelegtheiten mit einer in sehr weitem Rahmen pse_095.012 bestimmt gearteten Welt. Es ist hier nicht die Frage, ob das pse_095.013 jeweils genau die bestimmte Haltung des Dichters oder des pse_095.014 Lesers oder einer Person in der Dichtung selbst ist, sondern pse_095.015 auch hier wieder treffen wir auf ein allgemein Menschliches, pse_095.016 das grundsätzlich möglich ist und hier im Gesamt des dichterischen pse_095.017 Werkes, nicht bloß aus seinem Gehalt, lebendig wird. pse_095.018 Aus dieser inneren Haltung baut sich eine bestimmte Weltsicht pse_095.019 auf. Damit ist nicht ein objektiver, realer Bestand gemeint, pse_095.020 sondern Weltaufbau im Geist. Unser Weltbild ist pse_095.021 immer nicht bloß durch reale Außenweltgegebenheiten bestimmt, pse_095.022 sondern aus geistiger Bewältigung dieser Gegebenheiten. pse_095.023 Weltauffassung oder Weltsicht enthält immer neben pse_095.024 verarbeiteten Gegebenheiten auch die Gestimmtheit, in der pse_095.025 und durch die die Verarbeitung vollzogen worden ist. Umgekehrt pse_095.026 kann dann diese Weltauffassung selbst wieder auf die pse_095.027 innere Haltung des Menschen einwirken. pse_095.028 Im großen versuchen wir hier, diese Möglichkeiten auf pse_095.029 drei Grundgegebenheiten zurückzuführen: auf die Haltung pse_095.030 des Ernstes, der Heiterkeit und der betonten geistigen Überlegenheit. pse_095.031 pse_095.032 Der Ernst pse_095.033 Es ist nicht nötig, die innere Haltung des Ernstes, mit der pse_095.034 wir Erfahrungen machen, näher zu beschreiben. Jeder kann pse_095.035 sie an sich erfahren, der eine mehr, der andere weniger. Eine pse_095.036 gewisse Schwere und Getragenheit der Stimmung ist kennzeichnend,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/111
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/111>, abgerufen am 03.05.2024.