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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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einzelne, die schon mehr Seelen der Unterwelt hinter dem pse_092.002
Styxfluß sind, "einsame, hoch und alt". Diese grandiose Schau, pse_092.003
wie sie schon in einer ersten Schicht erscheint, offenbart pse_092.004
gerade im Ergreifenden der Bilder zugleich menschliche pse_092.005
Ergriffenheit. Nicht nur ein Bild der Endzeit, sondern auch pse_092.006
der menschlichen Erschütterung darob. Diese Ergriffenheit ist pse_092.007
so stark, daß sie zur kräftigsten Gestaltung greift. Zunächst im pse_092.008
Rhythmus. Die ersten zwei Verspaare bilden je einen Satz, die pse_092.009
Sinnbewegung geht über zwei Verse und wird so breit und pse_092.010
mächtig, zumal die beiden Verspaare selbst wieder zu einem pse_092.011
größeren Ganzen zusammenschwingen. Dann aber beginnt pse_092.012
die Bewegung zu stocken. Man beachte rein äußerlich die pse_092.013
Zahl der Satzzeichen im zweiten Teil: es ist kaum mehr pse_092.014
die Satzgestalt da, sondern ein heftiges Aneinanderstoßen pse_092.015
einzelner Worte. Dazu kommt der Wortgehalt des letzten pse_092.016
Verses, der nun das Tempo sehr verlangsamt. Also nach dem pse_092.017
breiten Strömen der ersten Hälfte ein beginnendes Stocken pse_092.018
und endlich starke Verlangsamung: so klingt das Ganze müde pse_092.019
aus. Die Eindringlichkeit beinahe aller Worte, in diesem pse_092.020
Rahmen auch der Fremdworte -- das Fremdartige dieser pse_092.021
fremden Zukunftswelt noch mehr heraustreibend -- wird nun pse_092.022
noch durch ihren Lautungswert erhöht. Man beachte, wie pse_092.023
klangreich und dadurch eindrucksvoll viele Worte sind. Der pse_092.024
tiefe Eindruck wird aber noch verstärkt durch die wirkungsvollen pse_092.025
Bindungen der Worte: der Stabreim im ersten und pse_092.026
zweiten Vers, der noch viel weiter ausgreifende im fünften pse_092.027
Vers, und endlich die Endreime. Tränken und Versenken pse_092.028
klingen auch im Gehalt zusammen, ebenso wie Raum und pse_092.029
Traum. Vor allem aber die Reimkunst im zweiten Teil: das pse_092.030
Zusammenwirken von kalt und alt, und mitten in sie hineingestellt pse_092.031
die Seelen, noch dazu im gespannten Reim zu Verfehlen. pse_092.032
Daß ein Mensch den Blick gegenüber diesem ungeheuren pse_092.033
Ende offenhält, daß er es so eindringlich sieht und gestaltet, pse_092.034
daß er im Gestalten es in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit pse_092.035
erst recht herausstellt und im Herausstellen ihm zu stehen pse_092.036
vermag, aufrecht bleibt vor dieser Größe, und zwar als pse_092.037
Schaffender -- das alles lebt auch in diesen Versen und ist in pse_092.038
ihnen dauernde Gestalt geworden.

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Styxfluß sind, »einsame, hoch und alt«. Diese grandiose Schau, pse_092.003
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Ergriffenheit. Nicht nur ein Bild der Endzeit, sondern auch pse_092.006
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/108>, abgerufen am 03.05.2024.