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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Was an diesen Versen angedeutet worden ist, könnte an pse_093.002
vielen anderen auch gezeigt werden. Viele Sprachgebilde pse_093.003
ließen noch weitere Stilzüge des Menschlichen deutlich pse_093.004
werden. Etwa der menschliche Wert der "ich"- und "du"- pse_093.005
Formen, die immer sofort das Menschliche in einem Redenden pse_093.006
und einem Angeredeten verdeutlichen; in der Epik tritt pse_093.007
dazu dann noch der Standpunkt des Erzählers, der vielfach pse_093.008
eben als menschliches Wesen in seinem Erzählen das Erzählte pse_093.009
in eine bestimmte Atmosphäre taucht. Das Drama ist ja dann pse_093.010
schon aus seinem Wesen heraus ganz in eine menschliche pse_093.011
Stimmung getaucht. Und gerade im modernsten Drama pse_093.012
finden wir häufig Züge, die auch den Dichter als die gestaltende pse_093.013
Persönlichkeit ahnen lassen.

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Wir können zusammenfassen. In der künstlerischen Gestaltung pse_093.015
einer Dichtung wird Menschliches lebendig und pse_093.016
greifbar, so daß Dichtung nie bloßes, un-menschliches Ding pse_093.017
ist. Auch dort, wo groteske Fratzen alles beherrschen, spürt pse_093.018
man den Schauder oder das kalte Grinsen eines Menschen mitbeben. pse_093.019
Man kann umgekehrt sagen, daß nur da eine bedeutsame pse_093.020
künstlerische Form erwächst, wo ein starkes Persönlichkeitsbewußtsein pse_093.021
am Werk ist. Dichtung ist also immer auch pse_093.022
Ausdruck eines Menschlichen; erst dieses gibt ihr das Leben pse_093.023
und die tiefe Wirksamkeit. Aus der inneren Dynamik des pse_093.024
schöpferischen Menschen geht die Bewegung über in das pse_093.025
Kunstwerk; das Leben der Verba, der Fluß und die Kraft des pse_093.026
Rhythmus, die Dynamik des Satzablaufs, das alles sind Züge pse_093.027
am Werk, in denen menschliches Leben spürbar ist. Im Ablauf pse_093.028
und Aufbau einer Dichtung ist der schöpferische Wille spürbar, pse_093.029
und zwar in seinen verschiedensten Schattierungen. Man pse_093.030
stelle die "Räuber" neben die "Iphigenie", die Prometheushymne pse_093.031
neben das Mondlied, den "Michael Kohlhaas" neben pse_093.032
die "Brigitta". Damit erst entsteht die Geschlossenheit des pse_093.033
Kunstwerks. "Was dem Kunstwerk die innere Durchsichtigkeit pse_093.034
gibt, so daß alle Zusammenhänge und die Einheit des pse_093.035
Ganzen sichtbar werden, ist nicht die Verwandlung der Welt pse_093.036
noch die Wallung der Seele, sondern die innere Gerichtetheit pse_093.037
des schaffenden Geistes. Von einer unsichtbaren Lichtquelle pse_093.038
her wird alles Geschehen so beleuchtet, werden die Wertakzente

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Was an diesen Versen angedeutet worden ist, könnte an pse_093.002
vielen anderen auch gezeigt werden. Viele Sprachgebilde pse_093.003
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und einem Angeredeten verdeutlichen; in der Epik tritt pse_093.007
dazu dann noch der Standpunkt des Erzählers, der vielfach pse_093.008
eben als menschliches Wesen in seinem Erzählen das Erzählte pse_093.009
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schon aus seinem Wesen heraus ganz in eine menschliche pse_093.011
Stimmung getaucht. Und gerade im modernsten Drama pse_093.012
finden wir häufig Züge, die auch den Dichter als die gestaltende pse_093.013
Persönlichkeit ahnen lassen.

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Wir können zusammenfassen. In der künstlerischen Gestaltung pse_093.015
einer Dichtung wird Menschliches lebendig und pse_093.016
greifbar, so daß Dichtung nie bloßes, un-menschliches Ding pse_093.017
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neben das Mondlied, den »Michael Kohlhaas« neben pse_093.032
die »Brigitta«. Damit erst entsteht die Geschlossenheit des pse_093.033
Kunstwerks. »Was dem Kunstwerk die innere Durchsichtigkeit pse_093.034
gibt, so daß alle Zusammenhänge und die Einheit des pse_093.035
Ganzen sichtbar werden, ist nicht die Verwandlung der Welt pse_093.036
noch die Wallung der Seele, sondern die innere Gerichtetheit pse_093.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/109>, abgerufen am 03.05.2024.