Verfall, Verflammen, Verfehlen --pse_091.002 in toxischen Sphären, kalt,pse_091.003 noch einige stygische Seelen,pse_091.004 einsame, hoch und alt.
pse_091.005
Gewiß ist in diesem Gedicht nicht von Menschlichem die pse_091.006 Rede. Nur in den letzten zwei Versen tauchen "stygische pse_091.007 Seelen" auf, und sie erscheinen in bestimmter Beleuchtung: pse_091.008 als einsam, hoch und alt. Aber auch sie sind in einen viel pse_091.009 größeren, in einen kosmischen Zusammenhang als verhältnismäßig pse_091.010 Unbedeutendes eingefügt. Insofern ist Menschliches pse_091.011 hier tatsächlich ausgeschaltet. Das ist aber gerade für die Lyrik pse_091.012 in dieser äußerlichen Form gar nicht so selten, und vor allem pse_091.013 nicht bloß modern. Manches Beispiel reiner Naturlyrik aus pse_091.014 früherer Zeit könnte auch als Beispiel dienen. Damit ist aber pse_091.015 die Hauptsache noch gar nicht berührt. Auf sie stoßen wir pse_091.016 erst, wenn wir auf die künstlerische Gestaltung achten. In ihr pse_091.017 als einem Menschenwerk muß sich nun das Menschliche pse_091.018 zeigen. Prosaisch gesagt, entwirft hier Benn ein Bild einer pse_091.019 späten Erd- und Weltenzukunft. Dieses Bild ist in seiner pse_091.020 Gesamtheit von einem bestimmten Menschen geprägt; andere pse_091.021 würden diese Spätzeit anders sehen. Es ist also dies Bild eine pse_091.022 rein menschliche Reaktion aus dem Inneren auf das, was Wissenschaft pse_091.023 als zukünftige Realität ahnen läßt. Dieses Menschliche pse_091.024 wird aber noch viel deutlicher, wenn wir auf die Einzelheiten pse_091.025 achten. Gewiß hat Benn wissenschaftliche Fachausdrücke pse_091.026 verwendet: Quartär, ptolemäisch, toxisch. Denn pse_091.027 auch vor diesen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung pse_091.028 aufgegliederten Bereichen macht Erfahrung, macht auch pse_091.029 das Erleben nicht halt. Aber auch diese Fachausdrücke bekommen pse_091.030 im Zusammenhang des Gedichts tieferen Gehalt, sprechen pse_091.031 innerste Bereiche an. Die Spätzeit zeigt uns aber der pse_091.032 Dichter in geradezu erschütternden Bildern: die Welten pse_091.033 trinken sich einen Rausch an und erringen neue Räume, das pse_091.034 ptolemäische Weltbild, an sich nur mehr ein Traum, versinkt. pse_091.035 Das Endchaos ist eindringlich verdichtet in die drei Worte des pse_091.036 fünften Verses, wobei gerade das mittlere Wort mit seiner pse_091.037 Kraft die beiden anderen aus der Verflachung herausreißt. pse_091.038 Und wie sieht er den Menschen? In kalter, giftiger Luft noch
pse_091.001
Verfall, Verflammen, Verfehlen —pse_091.002 in toxischen Sphären, kalt,pse_091.003 noch einige stygische Seelen,pse_091.004 einsame, hoch und alt.
pse_091.005
Gewiß ist in diesem Gedicht nicht von Menschlichem die pse_091.006 Rede. Nur in den letzten zwei Versen tauchen »stygische pse_091.007 Seelen« auf, und sie erscheinen in bestimmter Beleuchtung: pse_091.008 als einsam, hoch und alt. Aber auch sie sind in einen viel pse_091.009 größeren, in einen kosmischen Zusammenhang als verhältnismäßig pse_091.010 Unbedeutendes eingefügt. Insofern ist Menschliches pse_091.011 hier tatsächlich ausgeschaltet. Das ist aber gerade für die Lyrik pse_091.012 in dieser äußerlichen Form gar nicht so selten, und vor allem pse_091.013 nicht bloß modern. Manches Beispiel reiner Naturlyrik aus pse_091.014 früherer Zeit könnte auch als Beispiel dienen. Damit ist aber pse_091.015 die Hauptsache noch gar nicht berührt. Auf sie stoßen wir pse_091.016 erst, wenn wir auf die künstlerische Gestaltung achten. In ihr pse_091.017 als einem Menschenwerk muß sich nun das Menschliche pse_091.018 zeigen. Prosaisch gesagt, entwirft hier Benn ein Bild einer pse_091.019 späten Erd- und Weltenzukunft. Dieses Bild ist in seiner pse_091.020 Gesamtheit von einem bestimmten Menschen geprägt; andere pse_091.021 würden diese Spätzeit anders sehen. Es ist also dies Bild eine pse_091.022 rein menschliche Reaktion aus dem Inneren auf das, was Wissenschaft pse_091.023 als zukünftige Realität ahnen läßt. Dieses Menschliche pse_091.024 wird aber noch viel deutlicher, wenn wir auf die Einzelheiten pse_091.025 achten. Gewiß hat Benn wissenschaftliche Fachausdrücke pse_091.026 verwendet: Quartär, ptolemäisch, toxisch. Denn pse_091.027 auch vor diesen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung pse_091.028 aufgegliederten Bereichen macht Erfahrung, macht auch pse_091.029 das Erleben nicht halt. Aber auch diese Fachausdrücke bekommen pse_091.030 im Zusammenhang des Gedichts tieferen Gehalt, sprechen pse_091.031 innerste Bereiche an. Die Spätzeit zeigt uns aber der pse_091.032 Dichter in geradezu erschütternden Bildern: die Welten pse_091.033 trinken sich einen Rausch an und erringen neue Räume, das pse_091.034 ptolemäische Weltbild, an sich nur mehr ein Traum, versinkt. pse_091.035 Das Endchaos ist eindringlich verdichtet in die drei Worte des pse_091.036 fünften Verses, wobei gerade das mittlere Wort mit seiner pse_091.037 Kraft die beiden anderen aus der Verflachung herausreißt. pse_091.038 Und wie sieht er den Menschen? In kalter, giftiger Luft noch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0107"n="91"/><lbn="pse_091.001"/><lg><l><hirendition="#aq">Verfall, Verflammen, Verfehlen —</hi></l><lbn="pse_091.002"/><l><hirendition="#aq">in toxischen Sphären, kalt,</hi></l><lbn="pse_091.003"/><l><hirendition="#aq">noch einige stygische Seelen,</hi></l><lbn="pse_091.004"/><l><hirendition="#aq">einsame, hoch und alt.</hi></l></lg><lbn="pse_091.005"/><p>Gewiß ist in diesem Gedicht nicht von Menschlichem die <lbn="pse_091.006"/>
Rede. Nur in den letzten zwei Versen tauchen »stygische <lbn="pse_091.007"/>
Seelen« auf, und sie erscheinen in bestimmter Beleuchtung: <lbn="pse_091.008"/>
als einsam, hoch und alt. Aber auch sie sind in einen viel <lbn="pse_091.009"/>
größeren, in einen kosmischen Zusammenhang als verhältnismäßig <lbn="pse_091.010"/>
Unbedeutendes eingefügt. Insofern ist Menschliches <lbn="pse_091.011"/>
hier tatsächlich ausgeschaltet. Das ist aber gerade für die Lyrik <lbn="pse_091.012"/>
in dieser äußerlichen Form gar nicht so selten, und vor allem <lbn="pse_091.013"/>
nicht bloß modern. Manches Beispiel reiner Naturlyrik aus <lbn="pse_091.014"/>
früherer Zeit könnte auch als Beispiel dienen. Damit ist aber <lbn="pse_091.015"/>
die Hauptsache noch gar nicht berührt. Auf sie stoßen wir <lbn="pse_091.016"/>
erst, wenn wir auf die künstlerische Gestaltung achten. In ihr <lbn="pse_091.017"/>
als einem Menschenwerk muß sich nun das Menschliche <lbn="pse_091.018"/>
zeigen. Prosaisch gesagt, entwirft hier Benn ein Bild einer <lbn="pse_091.019"/>
späten Erd- und Weltenzukunft. Dieses Bild ist in seiner <lbn="pse_091.020"/>
Gesamtheit von einem bestimmten Menschen geprägt; andere <lbn="pse_091.021"/>
würden diese Spätzeit anders sehen. Es ist also dies Bild eine <lbn="pse_091.022"/>
rein menschliche Reaktion aus dem Inneren auf das, was Wissenschaft <lbn="pse_091.023"/>
als zukünftige Realität ahnen läßt. Dieses Menschliche <lbn="pse_091.024"/>
wird aber noch viel deutlicher, wenn wir auf die Einzelheiten <lbn="pse_091.025"/>
achten. Gewiß hat Benn wissenschaftliche Fachausdrücke <lbn="pse_091.026"/>
verwendet: Quartär, ptolemäisch, toxisch. Denn <lbn="pse_091.027"/>
auch vor diesen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung <lbn="pse_091.028"/>
aufgegliederten Bereichen macht Erfahrung, macht auch <lbn="pse_091.029"/>
das Erleben nicht halt. Aber auch diese Fachausdrücke bekommen <lbn="pse_091.030"/>
im Zusammenhang des Gedichts tieferen Gehalt, sprechen <lbn="pse_091.031"/>
innerste Bereiche an. Die Spätzeit zeigt uns aber der <lbn="pse_091.032"/>
Dichter in geradezu erschütternden Bildern: die Welten <lbn="pse_091.033"/>
trinken sich einen Rausch an und erringen neue Räume, das <lbn="pse_091.034"/>
ptolemäische Weltbild, an sich nur mehr ein Traum, versinkt. <lbn="pse_091.035"/>
Das Endchaos ist eindringlich verdichtet in die drei Worte des <lbn="pse_091.036"/>
fünften Verses, wobei gerade das mittlere Wort mit seiner <lbn="pse_091.037"/>
Kraft die beiden anderen aus der Verflachung herausreißt. <lbn="pse_091.038"/>
Und wie sieht er den Menschen? In kalter, giftiger Luft noch
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[91/0107]
pse_091.001
Verfall, Verflammen, Verfehlen — pse_091.002
in toxischen Sphären, kalt, pse_091.003
noch einige stygische Seelen, pse_091.004
einsame, hoch und alt.
pse_091.005
Gewiß ist in diesem Gedicht nicht von Menschlichem die pse_091.006
Rede. Nur in den letzten zwei Versen tauchen »stygische pse_091.007
Seelen« auf, und sie erscheinen in bestimmter Beleuchtung: pse_091.008
als einsam, hoch und alt. Aber auch sie sind in einen viel pse_091.009
größeren, in einen kosmischen Zusammenhang als verhältnismäßig pse_091.010
Unbedeutendes eingefügt. Insofern ist Menschliches pse_091.011
hier tatsächlich ausgeschaltet. Das ist aber gerade für die Lyrik pse_091.012
in dieser äußerlichen Form gar nicht so selten, und vor allem pse_091.013
nicht bloß modern. Manches Beispiel reiner Naturlyrik aus pse_091.014
früherer Zeit könnte auch als Beispiel dienen. Damit ist aber pse_091.015
die Hauptsache noch gar nicht berührt. Auf sie stoßen wir pse_091.016
erst, wenn wir auf die künstlerische Gestaltung achten. In ihr pse_091.017
als einem Menschenwerk muß sich nun das Menschliche pse_091.018
zeigen. Prosaisch gesagt, entwirft hier Benn ein Bild einer pse_091.019
späten Erd- und Weltenzukunft. Dieses Bild ist in seiner pse_091.020
Gesamtheit von einem bestimmten Menschen geprägt; andere pse_091.021
würden diese Spätzeit anders sehen. Es ist also dies Bild eine pse_091.022
rein menschliche Reaktion aus dem Inneren auf das, was Wissenschaft pse_091.023
als zukünftige Realität ahnen läßt. Dieses Menschliche pse_091.024
wird aber noch viel deutlicher, wenn wir auf die Einzelheiten pse_091.025
achten. Gewiß hat Benn wissenschaftliche Fachausdrücke pse_091.026
verwendet: Quartär, ptolemäisch, toxisch. Denn pse_091.027
auch vor diesen durch die moderne Wissenschaftsentwicklung pse_091.028
aufgegliederten Bereichen macht Erfahrung, macht auch pse_091.029
das Erleben nicht halt. Aber auch diese Fachausdrücke bekommen pse_091.030
im Zusammenhang des Gedichts tieferen Gehalt, sprechen pse_091.031
innerste Bereiche an. Die Spätzeit zeigt uns aber der pse_091.032
Dichter in geradezu erschütternden Bildern: die Welten pse_091.033
trinken sich einen Rausch an und erringen neue Räume, das pse_091.034
ptolemäische Weltbild, an sich nur mehr ein Traum, versinkt. pse_091.035
Das Endchaos ist eindringlich verdichtet in die drei Worte des pse_091.036
fünften Verses, wobei gerade das mittlere Wort mit seiner pse_091.037
Kraft die beiden anderen aus der Verflachung herausreißt. pse_091.038
Und wie sieht er den Menschen? In kalter, giftiger Luft noch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/107>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.