Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.
Anhang. Anatolische Fragmente. war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber-gehenden Glanz der Waffenherrschaft. Zwar die natürlichen Bedingungen der Existenz vermochte selbst ein so rohes Volk wie die Osmanen nicht vollends zu verwischen, und wenn auch heute Sinope nur mehr ein elendes Fischerstädtchen, ohne Handel und Gewerbfleiß ist, so hat dennoch der uralte Handelsweg von diesem Gestade nach dem näheren und ferneren Oriente sozusagen bis in unsere Tage hinein seine sichtbaren Spuren hinterlassen. Der jetzige trostlose Zustand des Platzes datirt erst aus jener Zeit, wo die fatalistische Beschaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer früheren Thatkraft trat und selbst die Initiative einzelner rühriger Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung, Rechtlosigkeit und allgemeiner Corruption unterging. Und wie bietet sich dies vielgefeierte Bild dem heutigen 1 Ansicht im "Magasin pittoresque", Nr. 9 (1877); dann bei v. Tschichatscheff, "Asie Mineure", (Tafel 22 des Atlas). 2 In der asiatischen Türkei sind derlei bedenkliche Bauten nicht selten
und die biedere Rechtgläubigkeit ist bestmöglichst bestrebt, wo es nur immer angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken, sondern ganz andere, göttliche Umstände. So hat beispielsweise Mosul am Tigris sein schiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu müssen, geht seit Jahrhunderten die Mär, es habe sich seinerzeit geneigt, Anhang. Anatoliſche Fragmente. war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber-gehenden Glanz der Waffenherrſchaft. Zwar die natürlichen Bedingungen der Exiſtenz vermochte ſelbſt ein ſo rohes Volk wie die Osmanen nicht vollends zu verwiſchen, und wenn auch heute Sinope nur mehr ein elendes Fiſcherſtädtchen, ohne Handel und Gewerbfleiß iſt, ſo hat dennoch der uralte Handelsweg von dieſem Geſtade nach dem näheren und ferneren Oriente ſozuſagen bis in unſere Tage hinein ſeine ſichtbaren Spuren hinterlaſſen. Der jetzige troſtloſe Zuſtand des Platzes datirt erſt aus jener Zeit, wo die fataliſtiſche Beſchaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer früheren Thatkraft trat und ſelbſt die Initiative einzelner rühriger Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung, Rechtloſigkeit und allgemeiner Corruption unterging. Und wie bietet ſich dies vielgefeierte Bild dem heutigen 1 Anſicht im „Magasin pittoresque“, Nr. 9 (1877); dann bei v. Tſchichatſcheff, „Asie Mineure“, (Tafel 22 des Atlas). 2 In der aſiatiſchen Türkei ſind derlei bedenkliche Bauten nicht ſelten
und die biedere Rechtgläubigkeit iſt beſtmöglichſt beſtrebt, wo es nur immer angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken, ſondern ganz andere, göttliche Umſtände. So hat beiſpielsweiſe Moſul am Tigris ſein ſchiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu müſſen, geht ſeit Jahrhunderten die Mär, es habe ſich ſeinerzeit geneigt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0232" n="200"/><fw place="top" type="header">Anhang. Anatoliſche Fragmente.</fw><lb/> war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber-<lb/> gehenden Glanz der Waffenherrſchaft. Zwar die natürlichen<lb/> Bedingungen der Exiſtenz vermochte ſelbſt ein ſo rohes Volk wie<lb/> die Osmanen nicht vollends zu verwiſchen, und wenn auch heute<lb/> Sinope nur mehr ein elendes Fiſcherſtädtchen, ohne Handel und<lb/> Gewerbfleiß iſt, ſo hat dennoch der uralte Handelsweg von dieſem<lb/> Geſtade nach dem näheren und ferneren Oriente ſozuſagen bis<lb/> in unſere Tage hinein ſeine ſichtbaren Spuren hinterlaſſen. Der<lb/> jetzige troſtloſe Zuſtand des Platzes datirt erſt aus jener Zeit,<lb/> wo die fataliſtiſche Beſchaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer<lb/> früheren Thatkraft trat und ſelbſt die Initiative einzelner rühriger<lb/> Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung,<lb/> Rechtloſigkeit und allgemeiner Corruption unterging.</p><lb/> <p>Und wie bietet ſich dies vielgefeierte Bild dem heutigen<lb/> Beobachter? Vom anatoliſchen Feſtlande dehnt ſich oſtwärts<lb/> einige Stunden lang eine ſchmale, nur an ihrem Meeresende<lb/> maſſig emporſteigende Halbinſel, die an ihrer ſchmalſten Stelle<lb/> nur etwa 1200 Fuß breit iſt. Die Stadt ſelbſt liegt an dieſem<lb/> räumlich ſo beengten Iſthmus, wodurch er durch die Ortsanlage<lb/> gänzlich verbaut erſcheint, von Meer zu Meer durch älteres und<lb/> neueres Mauerwerk<note place="foot" n="1">Anſicht im <hi rendition="#aq">„Magasin pittoresque“,</hi> Nr. 9 (1877); dann bei v.<lb/> Tſchichatſcheff, <hi rendition="#aq">„Asie Mineure“,</hi> (Tafel 22 des Atlas).</note> abgegrenzt iſt und dem Seeplatze zwei<lb/> Häfen, den einen im Norden der Halbinſel, den anderen im<lb/> Süden von ihr, darbietet. Manches Mauerſtück ruht noch auf<lb/> ſeinen ſubterranen Traggalerien, welche die Römer des lockeren<lb/> Dünenſandes halber anzulegen für nöthig fanden, andere, mo-<lb/> derne Schutzbauten, darunter die polygonalen genueſiſchen Thürme,<lb/> welche vom Anbeginne her des ſoliden Fundamentes entbehrten,<lb/> haben ſich mit der Zeit zur Seite geneigt und drohen ſeit Jahr-<lb/> hunderten mit dem Einſturze — ohne zu ſtürzen<note xml:id="seg2pn_23_1" next="#seg2pn_23_2" place="foot" n="2">In der aſiatiſchen Türkei ſind derlei bedenkliche Bauten nicht ſelten<lb/> und die biedere Rechtgläubigkeit iſt beſtmöglichſt beſtrebt, wo es nur immer<lb/> angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht<lb/> das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken,<lb/> ſondern ganz andere, göttliche Umſtände. So hat beiſpielsweiſe Moſul<lb/> am Tigris ſein ſchiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu<lb/> müſſen, geht ſeit Jahrhunderten die Mär, es habe ſich ſeinerzeit geneigt,</note>. In Sinope gibt<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [200/0232]
Anhang. Anatoliſche Fragmente.
war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber-
gehenden Glanz der Waffenherrſchaft. Zwar die natürlichen
Bedingungen der Exiſtenz vermochte ſelbſt ein ſo rohes Volk wie
die Osmanen nicht vollends zu verwiſchen, und wenn auch heute
Sinope nur mehr ein elendes Fiſcherſtädtchen, ohne Handel und
Gewerbfleiß iſt, ſo hat dennoch der uralte Handelsweg von dieſem
Geſtade nach dem näheren und ferneren Oriente ſozuſagen bis
in unſere Tage hinein ſeine ſichtbaren Spuren hinterlaſſen. Der
jetzige troſtloſe Zuſtand des Platzes datirt erſt aus jener Zeit,
wo die fataliſtiſche Beſchaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer
früheren Thatkraft trat und ſelbſt die Initiative einzelner rühriger
Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung,
Rechtloſigkeit und allgemeiner Corruption unterging.
Und wie bietet ſich dies vielgefeierte Bild dem heutigen
Beobachter? Vom anatoliſchen Feſtlande dehnt ſich oſtwärts
einige Stunden lang eine ſchmale, nur an ihrem Meeresende
maſſig emporſteigende Halbinſel, die an ihrer ſchmalſten Stelle
nur etwa 1200 Fuß breit iſt. Die Stadt ſelbſt liegt an dieſem
räumlich ſo beengten Iſthmus, wodurch er durch die Ortsanlage
gänzlich verbaut erſcheint, von Meer zu Meer durch älteres und
neueres Mauerwerk 1 abgegrenzt iſt und dem Seeplatze zwei
Häfen, den einen im Norden der Halbinſel, den anderen im
Süden von ihr, darbietet. Manches Mauerſtück ruht noch auf
ſeinen ſubterranen Traggalerien, welche die Römer des lockeren
Dünenſandes halber anzulegen für nöthig fanden, andere, mo-
derne Schutzbauten, darunter die polygonalen genueſiſchen Thürme,
welche vom Anbeginne her des ſoliden Fundamentes entbehrten,
haben ſich mit der Zeit zur Seite geneigt und drohen ſeit Jahr-
hunderten mit dem Einſturze — ohne zu ſtürzen 2. In Sinope gibt
1 Anſicht im „Magasin pittoresque“, Nr. 9 (1877); dann bei v.
Tſchichatſcheff, „Asie Mineure“, (Tafel 22 des Atlas).
2 In der aſiatiſchen Türkei ſind derlei bedenkliche Bauten nicht ſelten
und die biedere Rechtgläubigkeit iſt beſtmöglichſt beſtrebt, wo es nur immer
angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht
das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken,
ſondern ganz andere, göttliche Umſtände. So hat beiſpielsweiſe Moſul
am Tigris ſein ſchiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu
müſſen, geht ſeit Jahrhunderten die Mär, es habe ſich ſeinerzeit geneigt,
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| Zitationshilfe: | Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/232>, abgerufen am 28.04.2024. |
