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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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faßte einen gewaltigen Stein ins Auge, der neben ihm
im Felde lag, und einen Markstein vorstellte. Zwölf
Männer, wie sie jetzt sind, würden ihn kaum auf den
Nacken heben können. Diesen faßte der Rutulerheld mit
der Hand, richtete sich empor und wollte ihn im
Laufe gegen den Feind schleudern. Aber er kannte sich
selbst nicht mehr, denn er fühlte seine Arme kraftlos,
seine Kniee schlottern, sein Blut zu Eis erstarren. Der
Felsenstein, durch die leere Luft gewirbelt, erreichte sein
Ziel gar nicht, er sank entkräftet auf den Boden, wie
man oft im Traume einen Anlauf nimmt, und doch nicht
gehen und nicht sprechen kann. Turnus wandte sich
unwillkührlich zur Flucht um, und säumte, die Rutuler
und die Mauern der Stadt vor sich erblickend, in ver¬
zagender Angst, und den Speerwurf des Feindes erwar¬
tend. Vergebens sah er sich nach seinem Wagen, ver¬
gebens nach der leitenden Schwester um.

Auch zauderte der Trojaner nicht und schleuderte
aus Leibeskräften die Todeslanze, die wie ein Felsstück
vom Geschütze abgesendet, oder wie ein Blitzstrahl daher¬
gesaust kam. Durch Schildrand und Panzer fuhr sie
dem Feind in die Hüfte, und getroffen vom Stoße sank
der gewaltige Turnus zusammenbrechend ins Knie.

Die Rutuler ächzten laut auf, daß die hohe Wal¬
dung umher wiederhallte. Turnus lag gedemüthigt auf
dem Boden, streckte flehend seine Rechte zu dem Sieger
empor und sprach: "Ich hab' es so verdient; ich ver¬
lange keine Schonung für mich; brauche dein Glück!
Aber wenn der Jammer meines Vaters dich zu rühren
vermag -- er ist mir, was dir Anchises war -- so er¬
barme dich des greisen Daunus. Gieb mich -- oder,

faßte einen gewaltigen Stein ins Auge, der neben ihm
im Felde lag, und einen Markſtein vorſtellte. Zwölf
Männer, wie ſie jetzt ſind, würden ihn kaum auf den
Nacken heben können. Dieſen faßte der Rutulerheld mit
der Hand, richtete ſich empor und wollte ihn im
Laufe gegen den Feind ſchleudern. Aber er kannte ſich
ſelbſt nicht mehr, denn er fühlte ſeine Arme kraftlos,
ſeine Kniee ſchlottern, ſein Blut zu Eis erſtarren. Der
Felſenſtein, durch die leere Luft gewirbelt, erreichte ſein
Ziel gar nicht, er ſank entkräftet auf den Boden, wie
man oft im Traume einen Anlauf nimmt, und doch nicht
gehen und nicht ſprechen kann. Turnus wandte ſich
unwillkührlich zur Flucht um, und ſäumte, die Rutuler
und die Mauern der Stadt vor ſich erblickend, in ver¬
zagender Angſt, und den Speerwurf des Feindes erwar¬
tend. Vergebens ſah er ſich nach ſeinem Wagen, ver¬
gebens nach der leitenden Schweſter um.

Auch zauderte der Trojaner nicht und ſchleuderte
aus Leibeskräften die Todeslanze, die wie ein Felsſtück
vom Geſchütze abgeſendet, oder wie ein Blitzſtrahl daher¬
geſauſt kam. Durch Schildrand und Panzer fuhr ſie
dem Feind in die Hüfte, und getroffen vom Stoße ſank
der gewaltige Turnus zuſammenbrechend ins Knie.

Die Rutuler ächzten laut auf, daß die hohe Wal¬
dung umher wiederhallte. Turnus lag gedemüthigt auf
dem Boden, ſtreckte flehend ſeine Rechte zu dem Sieger
empor und ſprach: „Ich hab' es ſo verdient; ich ver¬
lange keine Schonung für mich; brauche dein Glück!
Aber wenn der Jammer meines Vaters dich zu rühren
vermag — er iſt mir, was dir Anchiſes war — ſo er¬
barme dich des greiſen Daunus. Gieb mich — oder,

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[439/0461] faßte einen gewaltigen Stein ins Auge, der neben ihm im Felde lag, und einen Markſtein vorſtellte. Zwölf Männer, wie ſie jetzt ſind, würden ihn kaum auf den Nacken heben können. Dieſen faßte der Rutulerheld mit der Hand, richtete ſich empor und wollte ihn im Laufe gegen den Feind ſchleudern. Aber er kannte ſich ſelbſt nicht mehr, denn er fühlte ſeine Arme kraftlos, ſeine Kniee ſchlottern, ſein Blut zu Eis erſtarren. Der Felſenſtein, durch die leere Luft gewirbelt, erreichte ſein Ziel gar nicht, er ſank entkräftet auf den Boden, wie man oft im Traume einen Anlauf nimmt, und doch nicht gehen und nicht ſprechen kann. Turnus wandte ſich unwillkührlich zur Flucht um, und ſäumte, die Rutuler und die Mauern der Stadt vor ſich erblickend, in ver¬ zagender Angſt, und den Speerwurf des Feindes erwar¬ tend. Vergebens ſah er ſich nach ſeinem Wagen, ver¬ gebens nach der leitenden Schweſter um. Auch zauderte der Trojaner nicht und ſchleuderte aus Leibeskräften die Todeslanze, die wie ein Felsſtück vom Geſchütze abgeſendet, oder wie ein Blitzſtrahl daher¬ geſauſt kam. Durch Schildrand und Panzer fuhr ſie dem Feind in die Hüfte, und getroffen vom Stoße ſank der gewaltige Turnus zuſammenbrechend ins Knie. Die Rutuler ächzten laut auf, daß die hohe Wal¬ dung umher wiederhallte. Turnus lag gedemüthigt auf dem Boden, ſtreckte flehend ſeine Rechte zu dem Sieger empor und ſprach: „Ich hab' es ſo verdient; ich ver¬ lange keine Schonung für mich; brauche dein Glück! Aber wenn der Jammer meines Vaters dich zu rühren vermag — er iſt mir, was dir Anchiſes war — ſo er¬ barme dich des greiſen Daunus. Gieb mich — oder,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/461>, abgerufen am 22.11.2024.