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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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entgegenkommende Tochter bei der Hand und sprach schmei¬
chelnd: "Väterchen, willst du mir nicht einen Lastwagen
anspannen lassen, damit ich meine kostbaren Gewande
zur Wäsche nach dem Flusse führen kann. Sie liegen
mir so schmutzig umher. Auch dir ziemt es, in reinen
Kleidern im Rathe dazusitzen! So wollen auch deine
fünf Söhne, von welchen drei noch unvermählt sind, be¬
ständig in frischgewaschener Kleidung umhergehen, und fein
schmuck beim Reigentanz erscheinen. Und am Ende liegt
doch Alles auf mir!"

So sprach die Jungfrau; daß sie aber an die eigene
Vermählung dabei denke, das mochte die Blöde sich und
dem Vater nicht gestehen. Dieser aber merkte es doch,
und sprach: "Geh, mein Kind, ein geräumiger Korb¬
wagen und Maulthiere sollen dir nicht versagt seyn; be¬
fiehl den Knechten nur anzuspannen!" Nun trug die
Jungfrau die feinen Gewande aus der Kammer und
belud den Wagen; die Mutter fügte Wein in einem
Schlauche, Brod und Gemüse hinzu, und als sich Nau¬
sikaa in den Wagensitz geschwungen, gab sie ihr noch
die Oelflasche mit, sich zugleich mit den dienenden Jung¬
frauen zu baden und zu salben. Die Jungfrau war eine
geschickte Wagenlenkerin, sie ergriff selbst Zaum und Geißel
und lenkte die Thiere mit den Dienerinnen dem anmuthi¬
gen Ufer des Flusses zu. Hier lösten sie das Gespann,
ließen die Maulthiere im üppigen Grase weiden und
trugen die Gewande am Waschplatz in die geräumigen
Behälter, die zu diesem Behufe gegraben waren. Dann
wurde von den emsigen Mädchen die Wäsche mit den
Füßen gestampft, gewaschen und gewalkt, und endlich
wurden alle Kleider der Ordnung nach am Meeresufer

entgegenkommende Tochter bei der Hand und ſprach ſchmei¬
chelnd: „Väterchen, willſt du mir nicht einen Laſtwagen
anſpannen laſſen, damit ich meine koſtbaren Gewande
zur Wäſche nach dem Fluſſe führen kann. Sie liegen
mir ſo ſchmutzig umher. Auch dir ziemt es, in reinen
Kleidern im Rathe dazuſitzen! So wollen auch deine
fünf Söhne, von welchen drei noch unvermählt ſind, be¬
ſtändig in friſchgewaſchener Kleidung umhergehen, und fein
ſchmuck beim Reigentanz erſcheinen. Und am Ende liegt
doch Alles auf mir!“

So ſprach die Jungfrau; daß ſie aber an die eigene
Vermählung dabei denke, das mochte die Blöde ſich und
dem Vater nicht geſtehen. Dieſer aber merkte es doch,
und ſprach: „Geh, mein Kind, ein geräumiger Korb¬
wagen und Maulthiere ſollen dir nicht verſagt ſeyn; be¬
fiehl den Knechten nur anzuſpannen!“ Nun trug die
Jungfrau die feinen Gewande aus der Kammer und
belud den Wagen; die Mutter fügte Wein in einem
Schlauche, Brod und Gemüſe hinzu, und als ſich Nau¬
ſikaa in den Wagenſitz geſchwungen, gab ſie ihr noch
die Oelflaſche mit, ſich zugleich mit den dienenden Jung¬
frauen zu baden und zu ſalben. Die Jungfrau war eine
geſchickte Wagenlenkerin, ſie ergriff ſelbſt Zaum und Geißel
und lenkte die Thiere mit den Dienerinnen dem anmuthi¬
gen Ufer des Fluſſes zu. Hier lösten ſie das Geſpann,
ließen die Maulthiere im üppigen Graſe weiden und
trugen die Gewande am Waſchplatz in die geräumigen
Behälter, die zu dieſem Behufe gegraben waren. Dann
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Füßen geſtampft, gewaſchen und gewalkt, und endlich
wurden alle Kleider der Ordnung nach am Meeresufer

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[102/0124] entgegenkommende Tochter bei der Hand und ſprach ſchmei¬ chelnd: „Väterchen, willſt du mir nicht einen Laſtwagen anſpannen laſſen, damit ich meine koſtbaren Gewande zur Wäſche nach dem Fluſſe führen kann. Sie liegen mir ſo ſchmutzig umher. Auch dir ziemt es, in reinen Kleidern im Rathe dazuſitzen! So wollen auch deine fünf Söhne, von welchen drei noch unvermählt ſind, be¬ ſtändig in friſchgewaſchener Kleidung umhergehen, und fein ſchmuck beim Reigentanz erſcheinen. Und am Ende liegt doch Alles auf mir!“ So ſprach die Jungfrau; daß ſie aber an die eigene Vermählung dabei denke, das mochte die Blöde ſich und dem Vater nicht geſtehen. Dieſer aber merkte es doch, und ſprach: „Geh, mein Kind, ein geräumiger Korb¬ wagen und Maulthiere ſollen dir nicht verſagt ſeyn; be¬ fiehl den Knechten nur anzuſpannen!“ Nun trug die Jungfrau die feinen Gewande aus der Kammer und belud den Wagen; die Mutter fügte Wein in einem Schlauche, Brod und Gemüſe hinzu, und als ſich Nau¬ ſikaa in den Wagenſitz geſchwungen, gab ſie ihr noch die Oelflaſche mit, ſich zugleich mit den dienenden Jung¬ frauen zu baden und zu ſalben. Die Jungfrau war eine geſchickte Wagenlenkerin, ſie ergriff ſelbſt Zaum und Geißel und lenkte die Thiere mit den Dienerinnen dem anmuthi¬ gen Ufer des Fluſſes zu. Hier lösten ſie das Geſpann, ließen die Maulthiere im üppigen Graſe weiden und trugen die Gewande am Waſchplatz in die geräumigen Behälter, die zu dieſem Behufe gegraben waren. Dann wurde von den emſigen Mädchen die Wäſche mit den Füßen geſtampft, gewaſchen und gewalkt, und endlich wurden alle Kleider der Ordnung nach am Meeresufer

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/124>, abgerufen am 25.11.2024.