bewohnten und hier eine wohlgebaute Stadt gegründet hatten. Dort herrschte ein weiser König, mit Namen Alcinous, und in seinen Palast begab sich die Göttin. Sie suchte hier das Schlafgemach Nausikaa's auf, der jungfräulichen Tochter des Königes, die an Schönheit und Anmuth einer Unsterblichen ähnlich war. Diese schlief, von zwei Mägden, die ihre Bettstellen an der Pforte hatten, bewacht, in einer hohen, lichten Kammer. Athene nahte sich dem Lager der Jungfrau leise, wie ein Lüftchen, trat ihr zu Häupten, und in eine Gespielin verwandelt, sprach sie zu ihr im Traume: "Ei du träges Mädchen, wie wird dich doch die Mutter schelten! Hast du auch gar nicht für deine schönen Gewande gesorgt, die ungewaschen im Schranke liegen! Wenn nun einmal deine Vermählung herankommt und du etwas Schönes für dich selbst brauchst, und für die Jünglinge, die deine Brautführer seyn werden! Wie soll es dann werden? Schmucke Kleider empfehlen jedermann, und auch deine lieben Eltern haben an nichts eine größere Freude! Auf, erhebe dich mit der Morgenröthe, sie zu waschen: ich will dich begleiten und dir helfen, damit du geschwin¬ der fertig wirst. Du bleibst doch nicht lange mehr unver¬ mählt; werben doch schon lange die Edelsten unter dem Volke um die schöne Königstochter!"
Der Traum verließ das Mädchen; eilig erhob sie sich vom Lager, und suchte die Eltern in ihrer Kammer auf. Diese waren bereits aufgestanden; die Mutter saß am Heerde mit Dienerinnen und spann purpurne Seide, der König aber begegnete ihr unter der Pforte; er hatte schon einen Rath der angesehensten Phäaken bestellt, und wollte sich eben in denselben verfügen. Da faßte ihn die ihm
bewohnten und hier eine wohlgebaute Stadt gegründet hatten. Dort herrſchte ein weiſer König, mit Namen Alcinous, und in ſeinen Palaſt begab ſich die Göttin. Sie ſuchte hier das Schlafgemach Nauſikaa's auf, der jungfräulichen Tochter des Königes, die an Schönheit und Anmuth einer Unſterblichen ähnlich war. Dieſe ſchlief, von zwei Mägden, die ihre Bettſtellen an der Pforte hatten, bewacht, in einer hohen, lichten Kammer. Athene nahte ſich dem Lager der Jungfrau leiſe, wie ein Lüftchen, trat ihr zu Häupten, und in eine Geſpielin verwandelt, ſprach ſie zu ihr im Traume: „Ei du träges Mädchen, wie wird dich doch die Mutter ſchelten! Haſt du auch gar nicht für deine ſchönen Gewande geſorgt, die ungewaſchen im Schranke liegen! Wenn nun einmal deine Vermählung herankommt und du etwas Schönes für dich ſelbſt brauchſt, und für die Jünglinge, die deine Brautführer ſeyn werden! Wie ſoll es dann werden? Schmucke Kleider empfehlen jedermann, und auch deine lieben Eltern haben an nichts eine größere Freude! Auf, erhebe dich mit der Morgenröthe, ſie zu waſchen: ich will dich begleiten und dir helfen, damit du geſchwin¬ der fertig wirſt. Du bleibſt doch nicht lange mehr unver¬ mählt; werben doch ſchon lange die Edelſten unter dem Volke um die ſchöne Königstochter!“
Der Traum verließ das Mädchen; eilig erhob ſie ſich vom Lager, und ſuchte die Eltern in ihrer Kammer auf. Dieſe waren bereits aufgeſtanden; die Mutter ſaß am Heerde mit Dienerinnen und ſpann purpurne Seide, der König aber begegnete ihr unter der Pforte; er hatte ſchon einen Rath der angeſehenſten Phäaken beſtellt, und wollte ſich eben in denſelben verfügen. Da faßte ihn die ihm
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bewohnten und hier eine wohlgebaute Stadt gegründet
hatten. Dort herrſchte ein weiſer König, mit Namen
Alcinous, und in ſeinen Palaſt begab ſich die Göttin.
Sie ſuchte hier das Schlafgemach Nauſikaa's auf, der
jungfräulichen Tochter des Königes, die an Schönheit
und Anmuth einer Unſterblichen ähnlich war. Dieſe
ſchlief, von zwei Mägden, die ihre Bettſtellen an der
Pforte hatten, bewacht, in einer hohen, lichten Kammer.
Athene nahte ſich dem Lager der Jungfrau leiſe, wie ein
Lüftchen, trat ihr zu Häupten, und in eine Geſpielin
verwandelt, ſprach ſie zu ihr im Traume: „Ei du träges
Mädchen, wie wird dich doch die Mutter ſchelten! Haſt
du auch gar nicht für deine ſchönen Gewande geſorgt,
die ungewaſchen im Schranke liegen! Wenn nun einmal
deine Vermählung herankommt und du etwas Schönes
für dich ſelbſt brauchſt, und für die Jünglinge, die deine
Brautführer ſeyn werden! Wie ſoll es dann werden?
Schmucke Kleider empfehlen jedermann, und auch deine
lieben Eltern haben an nichts eine größere Freude!
Auf, erhebe dich mit der Morgenröthe, ſie zu waſchen:
ich will dich begleiten und dir helfen, damit du geſchwin¬
der fertig wirſt. Du bleibſt doch nicht lange mehr unver¬
mählt; werben doch ſchon lange die Edelſten unter dem
Volke um die ſchöne Königstochter!“
Der Traum verließ das Mädchen; eilig erhob ſie ſich
vom Lager, und ſuchte die Eltern in ihrer Kammer auf.
Dieſe waren bereits aufgeſtanden; die Mutter ſaß am
Heerde mit Dienerinnen und ſpann purpurne Seide, der
König aber begegnete ihr unter der Pforte; er hatte ſchon
einen Rath der angeſehenſten Phäaken beſtellt, und wollte
ſich eben in denſelben verfügen. Da faßte ihn die ihm
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/123>, abgerufen am 25.11.2024.
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