dein Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe ich dir geboren, und nun willst du des ältesten Kin¬ des mich berauben, und frägt man dich warum, so ant¬ wortest du: damit dem Menelaus seine Ehebrecherin wie¬ der zu Theil werde! O zwinge mich nicht, bei den Göt¬ tern, schlecht gegen dich zu werden, und sey nicht schlecht gegen mich! Du willst deine Tochter schlachten? welch Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen? Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von Hause wegziehst? Oder soll Ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es thäte! Warum soll es denn dein eigenes Kind seyn, das als Opfer fällt? Warum sprichst du nicht zu den Griechen: "Wenn ihr vor Troja schiffen wollet, so werfet das Loos darüber, wessen Tochter sterben soll." Nun soll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, dessen Sache ausgefochten wird, Menelaus, seiner Tochter Her¬ mione sich ohne Sorgen erfreuen darf, während seine treulose Gattin dieses Kind in Sparta's Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges unrechtes Wort gesagt habe. Ward aber von mir dir Wahrheit gesprochen, o so tödte doch deine und meine Tochter nicht, thu es nicht, besinne dich!"
Jetzt warf sich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und sprach mit erstickter Stimme: "Besäße ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felsen len¬ ken könnte, so wollte ich mich mit beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle meine Künste nur Thränen und anstatt des Oelzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe, Verdirb mich nicht frühzeitig,
dein Stolz draußen. Drei Mädchen und dieſen Sohn habe ich dir geboren, und nun willſt du des älteſten Kin¬ des mich berauben, und frägt man dich warum, ſo ant¬ worteſt du: damit dem Menelaus ſeine Ehebrecherin wie¬ der zu Theil werde! O zwinge mich nicht, bei den Göt¬ tern, ſchlecht gegen dich zu werden, und ſey nicht ſchlecht gegen mich! Du willſt deine Tochter ſchlachten? welch Gebet willſt du dabei ſprechen, was willſt du dir beim Tochtermord erflehen? Eine unglückſelige Rückkehr, ſo wie du jetzt ſchmählich von Hauſe wegziehſt? Oder ſoll Ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter ſelbſt zu Mördern machen, wenn ich es thäte! Warum ſoll es denn dein eigenes Kind ſeyn, das als Opfer fällt? Warum ſprichſt du nicht zu den Griechen: „Wenn ihr vor Troja ſchiffen wollet, ſo werfet das Loos darüber, weſſen Tochter ſterben ſoll.“ Nun ſoll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, deſſen Sache ausgefochten wird, Menelaus, ſeiner Tochter Her¬ mione ſich ohne Sorgen erfreuen darf, während ſeine treuloſe Gattin dieſes Kind in Sparta's Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges unrechtes Wort geſagt habe. Ward aber von mir dir Wahrheit geſprochen, o ſo tödte doch deine und meine Tochter nicht, thu es nicht, beſinne dich!“
Jetzt warf ſich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und ſprach mit erſtickter Stimme: „Beſäße ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felſen len¬ ken könnte, ſo wollte ich mich mit beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber ſind alle meine Künſte nur Thränen und anſtatt des Oelzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe, Verdirb mich nicht frühzeitig,
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dein Stolz draußen. Drei Mädchen und dieſen Sohn
habe ich dir geboren, und nun willſt du des älteſten Kin¬
des mich berauben, und frägt man dich warum, ſo ant¬
worteſt du: damit dem Menelaus ſeine Ehebrecherin wie¬
der zu Theil werde! O zwinge mich nicht, bei den Göt¬
tern, ſchlecht gegen dich zu werden, und ſey nicht ſchlecht
gegen mich! Du willſt deine Tochter ſchlachten? welch
Gebet willſt du dabei ſprechen, was willſt du dir beim
Tochtermord erflehen? Eine unglückſelige Rückkehr, ſo
wie du jetzt ſchmählich von Hauſe wegziehſt? Oder ſoll
Ich etwa Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die
Götter ſelbſt zu Mördern machen, wenn ich es thäte!
Warum ſoll es denn dein eigenes Kind ſeyn, das als
Opfer fällt? Warum ſprichſt du nicht zu den Griechen:
„Wenn ihr vor Troja ſchiffen wollet, ſo werfet das Loos
darüber, weſſen Tochter ſterben ſoll.“ Nun ſoll ich, deine
treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, deſſen
Sache ausgefochten wird, Menelaus, ſeiner Tochter Her¬
mione ſich ohne Sorgen erfreuen darf, während ſeine
treuloſe Gattin dieſes Kind in Sparta's Pflege geborgen
weiß! Antworte, ob ich ein einziges unrechtes Wort
geſagt habe. Ward aber von mir dir Wahrheit geſprochen,
o ſo tödte doch deine und meine Tochter nicht, thu es
nicht, beſinne dich!“
Jetzt warf ſich auch Iphigenia zu den Füßen ihres
Vaters und ſprach mit erſtickter Stimme: „Beſäße ich den
Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felſen len¬
ken könnte, ſo wollte ich mich mit beredten Worten an
dein Mitleid wenden. Jetzt aber ſind alle meine Künſte
nur Thränen und anſtatt des Oelzweigs umflechte ich dein
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/61>, abgerufen am 23.11.2024.
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