habe nie gelogen. Möge ich selbst sterben, wenn ich dein Kind nicht rette." Mit dieser Versicherung verließ der Sohn des Peleus Iphigenia's Mutter, die jetzt mit un¬ verhehltem Abscheu vor ihren Gatten Agamemnon trat. Dieser, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheim¬ niß verrathen war, rief ihr die zweideutigen Worte ent¬ gegen: "Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und über¬ gib es dem Vater, denn Mehl und Wasser und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfest fallen soll, Alles ist schon bereit." -- "Vortrefflich," rief Klytämnestra, und ihr Auge funkelte, "tritt selbst aus unserm Zelte heraus, o Tochter, du kennst ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen Bruder Orestes mit heraus!" Und als die Tochter erschienen war, fuhr sie fort: "Siehe Vater, hier steht sie dir zu Gehor¬ sam da, laß aber mich zuvor ein Wort an dich richten: sage mir aufrichtig, willst du wirklich meine und deine Tochter umbringen?" Lange stand der Feldherr lautlos da, endlich rief er in Verzweiflung aus: "O mein Ver¬ hängniß, mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein Geheimniß, Alles ist verloren!" -- "So höre mich denn," sprach Kly¬ tämnestra weiter, "ich will mein ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat unsre Ehe begon¬ nen, du hast mich gewaltsam entführt, hast meinen frü¬ heren Gatten erschlagen, mein Kind mir von der Brust genommen und getödtet. Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Rossen mit Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareus war es, der dich den Flehenden rettete, und so wurdest du wieder mein Gemahl. Du selbst wirst es bezeugen, daß ich tadellos in diesem Ehebunde war, deine Wonne im Hause und
habe nie gelogen. Möge ich ſelbſt ſterben, wenn ich dein Kind nicht rette.“ Mit dieſer Verſicherung verließ der Sohn des Peleus Iphigenia's Mutter, die jetzt mit un¬ verhehltem Abſcheu vor ihren Gatten Agamemnon trat. Dieſer, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheim¬ niß verrathen war, rief ihr die zweideutigen Worte ent¬ gegen: „Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und über¬ gib es dem Vater, denn Mehl und Waſſer und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfeſt fallen ſoll, Alles iſt ſchon bereit.“ — „Vortrefflich,“ rief Klytämneſtra, und ihr Auge funkelte, „tritt ſelbſt aus unſerm Zelte heraus, o Tochter, du kennſt ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen Bruder Oreſtes mit heraus!“ Und als die Tochter erſchienen war, fuhr ſie fort: „Siehe Vater, hier ſteht ſie dir zu Gehor¬ ſam da, laß aber mich zuvor ein Wort an dich richten: ſage mir aufrichtig, willſt du wirklich meine und deine Tochter umbringen?“ Lange ſtand der Feldherr lautlos da, endlich rief er in Verzweiflung aus: „O mein Ver¬ hängniß, mein böſer Geiſt! Aufgedeckt iſt mein Geheimniß, Alles iſt verloren!“ — „So höre mich denn,“ ſprach Kly¬ tämneſtra weiter, „ich will mein ganzes Herz vor dir ausſchütten. Mit einem Verbrechen hat unſre Ehe begon¬ nen, du haſt mich gewaltſam entführt, haſt meinen frü¬ heren Gatten erſchlagen, mein Kind mir von der Bruſt genommen und getödtet. Schon zogen meine Brüder Kaſtor und Pollux auf ihren Roſſen mit Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareus war es, der dich den Flehenden rettete, und ſo wurdeſt du wieder mein Gemahl. Du ſelbſt wirſt es bezeugen, daß ich tadellos in dieſem Ehebunde war, deine Wonne im Hauſe und
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habe nie gelogen. Möge ich ſelbſt ſterben, wenn ich dein
Kind nicht rette.“ Mit dieſer Verſicherung verließ der
Sohn des Peleus Iphigenia's Mutter, die jetzt mit un¬
verhehltem Abſcheu vor ihren Gatten Agamemnon trat.
Dieſer, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheim¬
niß verrathen war, rief ihr die zweideutigen Worte ent¬
gegen: „Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und über¬
gib es dem Vater, denn Mehl und Waſſer und das
Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfeſt
fallen ſoll, Alles iſt ſchon bereit.“ — „Vortrefflich,“ rief
Klytämneſtra, und ihr Auge funkelte, „tritt ſelbſt aus
unſerm Zelte heraus, o Tochter, du kennſt ja gründlich
deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen Bruder
Oreſtes mit heraus!“ Und als die Tochter erſchienen war,
fuhr ſie fort: „Siehe Vater, hier ſteht ſie dir zu Gehor¬
ſam da, laß aber mich zuvor ein Wort an dich richten:
ſage mir aufrichtig, willſt du wirklich meine und deine
Tochter umbringen?“ Lange ſtand der Feldherr lautlos
da, endlich rief er in Verzweiflung aus: „O mein Ver¬
hängniß, mein böſer Geiſt! Aufgedeckt iſt mein Geheimniß,
Alles iſt verloren!“ — „So höre mich denn,“ ſprach Kly¬
tämneſtra weiter, „ich will mein ganzes Herz vor dir
ausſchütten. Mit einem Verbrechen hat unſre Ehe begon¬
nen, du haſt mich gewaltſam entführt, haſt meinen frü¬
heren Gatten erſchlagen, mein Kind mir von der Bruſt
genommen und getödtet. Schon zogen meine Brüder
Kaſtor und Pollux auf ihren Roſſen mit Heeresmacht gegen
dich heran. Mein alter Vater Tyndareus war es, der
dich den Flehenden rettete, und ſo wurdeſt du wieder mein
Gemahl. Du ſelbſt wirſt es bezeugen, daß ich tadellos
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/60>, abgerufen am 27.11.2024.
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