sie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten könnte, als deine Kniee! Du hast Agamemnon's grausames Unterfangen gehört; du siehest, wie ich, ein wehrloses Weib, in die Mitte eines gewaltthätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, so ist uns geholfen!"
Achilles hob die vor ihm liegende Königin voll Ehr¬ furcht vom Boden und sprach: "Sei getrost, Fürstin! Ich bin in eines frommen, hülfreichen Mannes Haus aufge¬ zogen worden; am Heerde Chirons habe ich schlichte, red¬ liche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne, wenn sie mich zum Ruhme führen, aber schnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich schützen, so weit es den Armen eines Jünglings möglich ist, und nimmermehr soll deine Tochter, die einmal mein genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich selbst erschiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene Brautschaft dieses Kind verdürbe, ich käme mir wie der feigste Wicht im Heere und wie der Sohn eines Misse¬ thäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vor¬ wand eines Kindesmordes dienen könnte." -- "Ist das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürst," rief Kly¬ tämnestra, ausser sich vor Freude, "oder erwartest du vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Kniee als Schutzflehende umschlingen soll? Zwar ist es nicht jung¬ fräulich; aber wenn es dir gefällt, so wird sie züchtiglich nahen, wie es einer Freigebornen ziemt." -- "Nein," ent¬ gegnete ihr Achilles, "führe dein Mädchen nicht vor mein Angesicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn ein so großes Heer, das keine Heimat¬ sorgen hat, liebt faules Geschwätz; aber vertraue mir, ich
ſie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten könnte, als deine Kniee! Du haſt Agamemnon's grauſames Unterfangen gehört; du ſieheſt, wie ich, ein wehrloſes Weib, in die Mitte eines gewaltthätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, ſo iſt uns geholfen!“
Achilles hob die vor ihm liegende Königin voll Ehr¬ furcht vom Boden und ſprach: „Sei getroſt, Fürſtin! Ich bin in eines frommen, hülfreichen Mannes Haus aufge¬ zogen worden; am Heerde Chirons habe ich ſchlichte, red¬ liche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne, wenn ſie mich zum Ruhme führen, aber ſchnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich ſchützen, ſo weit es den Armen eines Jünglings möglich iſt, und nimmermehr ſoll deine Tochter, die einmal mein genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich ſelbſt erſchiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene Brautſchaft dieſes Kind verdürbe, ich käme mir wie der feigſte Wicht im Heere und wie der Sohn eines Miſſe¬ thäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vor¬ wand eines Kindesmordes dienen könnte.“ — „Iſt das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürſt,“ rief Kly¬ tämneſtra, auſſer ſich vor Freude, „oder erwarteſt du vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Kniee als Schutzflehende umſchlingen ſoll? Zwar iſt es nicht jung¬ fräulich; aber wenn es dir gefällt, ſo wird ſie züchtiglich nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.“ — „Nein,“ ent¬ gegnete ihr Achilles, „führe dein Mädchen nicht vor mein Angeſicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn ein ſo großes Heer, das keine Heimat¬ ſorgen hat, liebt faules Geſchwätz; aber vertraue mir, ich
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ſie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem
ich flüchten könnte, als deine Kniee! Du haſt Agamemnon's
grauſames Unterfangen gehört; du ſieheſt, wie ich, ein
wehrloſes Weib, in die Mitte eines gewaltthätigen Heeres
eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm aus, ſo iſt
uns geholfen!“
Achilles hob die vor ihm liegende Königin voll Ehr¬
furcht vom Boden und ſprach: „Sei getroſt, Fürſtin! Ich
bin in eines frommen, hülfreichen Mannes Haus aufge¬
zogen worden; am Heerde Chirons habe ich ſchlichte, red¬
liche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des
Atreus gerne, wenn ſie mich zum Ruhme führen, aber
ſchnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich
ſchützen, ſo weit es den Armen eines Jünglings möglich
iſt, und nimmermehr ſoll deine Tochter, die einmal mein
genannt wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich
ſelbſt erſchiene mir nicht unbefleckt, wenn meine erlogene
Brautſchaft dieſes Kind verdürbe, ich käme mir wie der
feigſte Wicht im Heere und wie der Sohn eines Miſſe¬
thäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vor¬
wand eines Kindesmordes dienen könnte.“ — „Iſt das
wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürſt,“ rief Kly¬
tämneſtra, auſſer ſich vor Freude, „oder erwarteſt du
vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Kniee als
Schutzflehende umſchlingen ſoll? Zwar iſt es nicht jung¬
fräulich; aber wenn es dir gefällt, ſo wird ſie züchtiglich
nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.“ — „Nein,“ ent¬
gegnete ihr Achilles, „führe dein Mädchen nicht vor mein
Angeſicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede
kommen, denn ein ſo großes Heer, das keine Heimat¬
ſorgen hat, liebt faules Geſchwätz; aber vertraue mir, ich
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/59>, abgerufen am 23.11.2024.
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