Kunde von seinem traurigen Tode. Ihr wankten die Kniee bei der Nachricht und sie sank bewußtlos nieder. Priamus aber wußte noch nichts davon, er saß klagend am Grabe seines Sohnes Hektor und wußte nicht, was draußen vorging. Helena dagegen ließ ihren strömenden Klagen bei der Botschaft ihren Lauf, wiewohl ihr Gemüth wenig davon wußte, denn sie war nicht sowohl über den Tod des Mannes betrübt, als über ihre eigene Schuld, an welche sie sich jetzt mit Zagen erinnerte.
Unerwartete Reue bemächtigte sich der Seele Oeno¬ ne's, die ferne von allen trojanischen Frauen auf der Höhe des Ida im einsamen Hause lag, und der jetzt erst die Erinnerung an ihre mit Paris in Liebe verlebte Ju¬ gend zurückkehrte. Wie das Eis, das auf dem hohen Gebirge sich in den Wäldern angesetzt und die Schluchten umher deckt, unter dem lauen Hauche des Westwinds wie¬ der schmilzt und in strömende Quellen zerfließt: so schmolz die Härtigkeit ihres Herzens dahin vor dem Kummer; das Herz ging ihr auf und Ströme von Thränen quollen aus ihren lang vertrockneten Augen. Endlich raffte sie sich auf, öffnete mit Heftigkeit die Pforte ihres Hauses und stürzte wie ein Sturmwind hinaus. Von Fels zu Fels, über Schluchten und Bergströme trugen sie die flüch¬ tigen Füße durch die Nacht hin. Mitleidsvoll blickte Luna vom blauen Nachthimmel auf sie herunter. Endlich ge¬ langte sie an die Stelle des Gebirges, wo der Leichnam ihres Gatten auf dem Holzstoß flammte und von den Schafhirten des Berges umringt war, die dem Freund und dem Königssohn die letzte Ehre erwiesen. Als ihn Oenone erblickte, machte sie der heftige Schmerz ganz sprachlos; sie verhüllte ihr schönes Antlitz in die Gewänder,
Kunde von ſeinem traurigen Tode. Ihr wankten die Kniee bei der Nachricht und ſie ſank bewußtlos nieder. Priamus aber wußte noch nichts davon, er ſaß klagend am Grabe ſeines Sohnes Hektor und wußte nicht, was draußen vorging. Helena dagegen ließ ihren ſtrömenden Klagen bei der Botſchaft ihren Lauf, wiewohl ihr Gemüth wenig davon wußte, denn ſie war nicht ſowohl über den Tod des Mannes betrübt, als über ihre eigene Schuld, an welche ſie ſich jetzt mit Zagen erinnerte.
Unerwartete Reue bemächtigte ſich der Seele Oeno¬ ne's, die ferne von allen trojaniſchen Frauen auf der Höhe des Ida im einſamen Hauſe lag, und der jetzt erſt die Erinnerung an ihre mit Paris in Liebe verlebte Ju¬ gend zurückkehrte. Wie das Eis, das auf dem hohen Gebirge ſich in den Wäldern angeſetzt und die Schluchten umher deckt, unter dem lauen Hauche des Weſtwinds wie¬ der ſchmilzt und in ſtrömende Quellen zerfließt: ſo ſchmolz die Härtigkeit ihres Herzens dahin vor dem Kummer; das Herz ging ihr auf und Ströme von Thränen quollen aus ihren lang vertrockneten Augen. Endlich raffte ſie ſich auf, öffnete mit Heftigkeit die Pforte ihres Hauſes und ſtürzte wie ein Sturmwind hinaus. Von Fels zu Fels, über Schluchten und Bergſtröme trugen ſie die flüch¬ tigen Füße durch die Nacht hin. Mitleidsvoll blickte Luna vom blauen Nachthimmel auf ſie herunter. Endlich ge¬ langte ſie an die Stelle des Gebirges, wo der Leichnam ihres Gatten auf dem Holzſtoß flammte und von den Schafhirten des Berges umringt war, die dem Freund und dem Königsſohn die letzte Ehre erwieſen. Als ihn Oenone erblickte, machte ſie der heftige Schmerz ganz ſprachlos; ſie verhüllte ihr ſchönes Antlitz in die Gewänder,
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Kunde von ſeinem traurigen Tode. Ihr wankten die
Kniee bei der Nachricht und ſie ſank bewußtlos nieder.
Priamus aber wußte noch nichts davon, er ſaß klagend
am Grabe ſeines Sohnes Hektor und wußte nicht, was
draußen vorging. Helena dagegen ließ ihren ſtrömenden
Klagen bei der Botſchaft ihren Lauf, wiewohl ihr Gemüth
wenig davon wußte, denn ſie war nicht ſowohl über den
Tod des Mannes betrübt, als über ihre eigene Schuld,
an welche ſie ſich jetzt mit Zagen erinnerte.
Unerwartete Reue bemächtigte ſich der Seele Oeno¬
ne's, die ferne von allen trojaniſchen Frauen auf der
Höhe des Ida im einſamen Hauſe lag, und der jetzt erſt
die Erinnerung an ihre mit Paris in Liebe verlebte Ju¬
gend zurückkehrte. Wie das Eis, das auf dem hohen
Gebirge ſich in den Wäldern angeſetzt und die Schluchten
umher deckt, unter dem lauen Hauche des Weſtwinds wie¬
der ſchmilzt und in ſtrömende Quellen zerfließt: ſo ſchmolz
die Härtigkeit ihres Herzens dahin vor dem Kummer;
das Herz ging ihr auf und Ströme von Thränen quollen
aus ihren lang vertrockneten Augen. Endlich raffte ſie
ſich auf, öffnete mit Heftigkeit die Pforte ihres Hauſes
und ſtürzte wie ein Sturmwind hinaus. Von Fels zu
Fels, über Schluchten und Bergſtröme trugen ſie die flüch¬
tigen Füße durch die Nacht hin. Mitleidsvoll blickte Luna
vom blauen Nachthimmel auf ſie herunter. Endlich ge¬
langte ſie an die Stelle des Gebirges, wo der Leichnam
ihres Gatten auf dem Holzſtoß flammte und von den
Schafhirten des Berges umringt war, die dem Freund
und dem Königsſohn die letzte Ehre erwieſen. Als ihn
Oenone erblickte, machte ſie der heftige Schmerz ganz
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/419>, abgerufen am 25.11.2024.
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