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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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beiden Händen festhielten, "ich bin reich und will euch als
Lösegeld Eisenerz und Gold geben, so viel ihr nur wol¬
let!" "Sey getrost," sprach Odysseus zu ihm, "und mach
dir keine Todesgedanken, aber sag' uns die Wahrheit,
was dich diesen Weg führte." Als Dolon zitternd und
bebend Alles gestanden, sprach Odysseus lächelnd: "Für¬
wahr, du hast keinen schlechten Geschmack, Bursche, daß
deine Seele nach dem Gespann des Peliden gelüstet!
Jetzt aber sage mir auf der Stelle: wo verließest du den
Hektor, wo stehen seine Rosse, wo ist das Kriegsgeräthe?
wo sind die andern Trojaner? wo die Bundesgenossen?"
Dolon antwortete: "Hektor beräth sich mit den Fürsten
am Grabmale des Ilus; das Kriegsheer ist ohne beson¬
dere Wachen um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen
Bundesgenossen aber, die für keine Weiber und Kinder
zu sorgen haben, schlafen getrennt von dem Heere und
unbewacht. Wenn ihr in das trojanische Lager wandeln
wollet, so stoßet ihr zuerst auf die eben angekommenen
Thrazier, die um ihren Fürsten Rhesus, den Sohn des
Eoneus, hingestreckt ruhen. Seine blendend weißen Rosse
sind die schönsten, größesten und schnellfüßigsten, die ich je
gesehen habe; sein Wagen ist mit Silber und Gold köstlich
geschmückt, er selbst trägt eine wundervolle goldne Rü¬
stung, wie ein Unsterblicher und nicht wie ein Mensch.
Nun wißt ihr Alles, führet mich nun nach den Schiffen,
oder laßt mich gebunden hier, und überzeuget euch, daß
ich die Wahrheit gesagt habe." Aber Diomedes schaute
den Gefangenen finster an und sprach: Ich merke wohl,
Betrüger, du sinnest auf Flucht; aber meine Hand wird
dafür sorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich
seyn kannst!" Zitternd erhob Dolon seine Rechte, das

beiden Händen feſthielten, „ich bin reich und will euch als
Löſegeld Eiſenerz und Gold geben, ſo viel ihr nur wol¬
let!“ „Sey getroſt,“ ſprach Odyſſeus zu ihm, „und mach
dir keine Todesgedanken, aber ſag' uns die Wahrheit,
was dich dieſen Weg führte.“ Als Dolon zitternd und
bebend Alles geſtanden, ſprach Odyſſeus lächelnd: „Für¬
wahr, du haſt keinen ſchlechten Geſchmack, Burſche, daß
deine Seele nach dem Geſpann des Peliden gelüſtet!
Jetzt aber ſage mir auf der Stelle: wo verließeſt du den
Hektor, wo ſtehen ſeine Roſſe, wo iſt das Kriegsgeräthe?
wo ſind die andern Trojaner? wo die Bundesgenoſſen?“
Dolon antwortete: „Hektor beräth ſich mit den Fürſten
am Grabmale des Ilus; das Kriegsheer iſt ohne beſon¬
dere Wachen um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen
Bundesgenoſſen aber, die für keine Weiber und Kinder
zu ſorgen haben, ſchlafen getrennt von dem Heere und
unbewacht. Wenn ihr in das trojaniſche Lager wandeln
wollet, ſo ſtoßet ihr zuerſt auf die eben angekommenen
Thrazier, die um ihren Fürſten Rheſus, den Sohn des
Eoneus, hingeſtreckt ruhen. Seine blendend weißen Roſſe
ſind die ſchönſten, größeſten und ſchnellfüßigſten, die ich je
geſehen habe; ſein Wagen iſt mit Silber und Gold köſtlich
geſchmückt, er ſelbſt trägt eine wundervolle goldne Rü¬
ſtung, wie ein Unſterblicher und nicht wie ein Menſch.
Nun wißt ihr Alles, führet mich nun nach den Schiffen,
oder laßt mich gebunden hier, und überzeuget euch, daß
ich die Wahrheit geſagt habe.“ Aber Diomedes ſchaute
den Gefangenen finſter an und ſprach: Ich merke wohl,
Betrüger, du ſinneſt auf Flucht; aber meine Hand wird
dafür ſorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich
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[169/0191] beiden Händen feſthielten, „ich bin reich und will euch als Löſegeld Eiſenerz und Gold geben, ſo viel ihr nur wol¬ let!“ „Sey getroſt,“ ſprach Odyſſeus zu ihm, „und mach dir keine Todesgedanken, aber ſag' uns die Wahrheit, was dich dieſen Weg führte.“ Als Dolon zitternd und bebend Alles geſtanden, ſprach Odyſſeus lächelnd: „Für¬ wahr, du haſt keinen ſchlechten Geſchmack, Burſche, daß deine Seele nach dem Geſpann des Peliden gelüſtet! Jetzt aber ſage mir auf der Stelle: wo verließeſt du den Hektor, wo ſtehen ſeine Roſſe, wo iſt das Kriegsgeräthe? wo ſind die andern Trojaner? wo die Bundesgenoſſen?“ Dolon antwortete: „Hektor beräth ſich mit den Fürſten am Grabmale des Ilus; das Kriegsheer iſt ohne beſon¬ dere Wachen um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen Bundesgenoſſen aber, die für keine Weiber und Kinder zu ſorgen haben, ſchlafen getrennt von dem Heere und unbewacht. Wenn ihr in das trojaniſche Lager wandeln wollet, ſo ſtoßet ihr zuerſt auf die eben angekommenen Thrazier, die um ihren Fürſten Rheſus, den Sohn des Eoneus, hingeſtreckt ruhen. Seine blendend weißen Roſſe ſind die ſchönſten, größeſten und ſchnellfüßigſten, die ich je geſehen habe; ſein Wagen iſt mit Silber und Gold köſtlich geſchmückt, er ſelbſt trägt eine wundervolle goldne Rü¬ ſtung, wie ein Unſterblicher und nicht wie ein Menſch. Nun wißt ihr Alles, führet mich nun nach den Schiffen, oder laßt mich gebunden hier, und überzeuget euch, daß ich die Wahrheit geſagt habe.“ Aber Diomedes ſchaute den Gefangenen finſter an und ſprach: Ich merke wohl, Betrüger, du ſinneſt auf Flucht; aber meine Hand wird dafür ſorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich ſeyn kannſt!“ Zitternd erhob Dolon ſeine Rechte, das

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/191>, abgerufen am 29.03.2024.