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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als schon das
Schwert des Tydiden ihm durch den Nacken fuhr, daß
das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hier¬
auf nahmen ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel,
zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen,
nahmen den Speer des Getödteten zur Hand, und legten
die ganze Rüstung zum Merkmale für den Heimweg auf
einige Rohrbüschel; dann gingen sie vorwärts und stießen
endlich auf die harmlos schlafenden Thrazier. Bei Jedem
stand ein Doppelgespann von stampfenden Rossen, die
Rüstungen lagen in schöner Ordnung und in dreifachen
Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte schlief
Rhesus, und seine Rosse standen am hintersten Wagen¬
ringe, mit Riemen angebunden. "Hier sind unsre Leute,"
sprach Odysseus ins Ohr des Tydiden; "jetzt gilt es
Thätigkeit; löse du die Rosse ab, oder besser, tödte du die
Männer, und laß mir die Rosse." Diomedes antwortete
ihm nicht, sondern wie ein Löwe unter Ziegen oder Schafe
fährt, hieb er wild um sich her, daß sich ein Röcheln un¬
ter seinem Schwert erhub und der Boden roth von
Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrazier gemordet;
der kluge Odysseus aber zog jeden Getödteten, am Fuß
ihn ergreifend, zurück, um den Rossen eine Bahn zu ma¬
chen. Nun hieb Diomedes auch den Dreizehnten nieder,
und dieß war der König Rhesus, der eben in einem
schweren Traume stöhnte, den ihm die Götter gesendet
hatten. Inzwischen hatte Odysseus die Rosse vom Wagen
abgelöst, mit Riemen verbunden, und, indem er sich seines
Bogens anstatt der Geißel bediente, sie aus dem Haufen
hinweggetrieben. Dann gab er seinem Genossen ein Zei¬
chen durch leises Pfeifen: dieser besann sich, ob er den

Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als ſchon das
Schwert des Tydiden ihm durch den Nacken fuhr, daß
das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hier¬
auf nahmen ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel,
zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen,
nahmen den Speer des Getödteten zur Hand, und legten
die ganze Rüſtung zum Merkmale für den Heimweg auf
einige Rohrbüſchel; dann gingen ſie vorwärts und ſtießen
endlich auf die harmlos ſchlafenden Thrazier. Bei Jedem
ſtand ein Doppelgeſpann von ſtampfenden Roſſen, die
Rüſtungen lagen in ſchöner Ordnung und in dreifachen
Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte ſchlief
Rheſus, und ſeine Roſſe ſtanden am hinterſten Wagen¬
ringe, mit Riemen angebunden. „Hier ſind unſre Leute,“
ſprach Odyſſeus ins Ohr des Tydiden; „jetzt gilt es
Thätigkeit; löſe du die Roſſe ab, oder beſſer, tödte du die
Männer, und laß mir die Roſſe.“ Diomedes antwortete
ihm nicht, ſondern wie ein Löwe unter Ziegen oder Schafe
fährt, hieb er wild um ſich her, daß ſich ein Röcheln un¬
ter ſeinem Schwert erhub und der Boden roth von
Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrazier gemordet;
der kluge Odyſſeus aber zog jeden Getödteten, am Fuß
ihn ergreifend, zurück, um den Roſſen eine Bahn zu ma¬
chen. Nun hieb Diomedes auch den Dreizehnten nieder,
und dieß war der König Rheſus, der eben in einem
ſchweren Traume ſtöhnte, den ihm die Götter geſendet
hatten. Inzwiſchen hatte Odyſſeus die Roſſe vom Wagen
abgelöſt, mit Riemen verbunden, und, indem er ſich ſeines
Bogens anſtatt der Geißel bediente, ſie aus dem Haufen
hinweggetrieben. Dann gab er ſeinem Genoſſen ein Zei¬
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[170/0192] Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als ſchon das Schwert des Tydiden ihm durch den Nacken fuhr, daß das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hier¬ auf nahmen ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel, zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen, nahmen den Speer des Getödteten zur Hand, und legten die ganze Rüſtung zum Merkmale für den Heimweg auf einige Rohrbüſchel; dann gingen ſie vorwärts und ſtießen endlich auf die harmlos ſchlafenden Thrazier. Bei Jedem ſtand ein Doppelgeſpann von ſtampfenden Roſſen, die Rüſtungen lagen in ſchöner Ordnung und in dreifachen Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte ſchlief Rheſus, und ſeine Roſſe ſtanden am hinterſten Wagen¬ ringe, mit Riemen angebunden. „Hier ſind unſre Leute,“ ſprach Odyſſeus ins Ohr des Tydiden; „jetzt gilt es Thätigkeit; löſe du die Roſſe ab, oder beſſer, tödte du die Männer, und laß mir die Roſſe.“ Diomedes antwortete ihm nicht, ſondern wie ein Löwe unter Ziegen oder Schafe fährt, hieb er wild um ſich her, daß ſich ein Röcheln un¬ ter ſeinem Schwert erhub und der Boden roth von Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrazier gemordet; der kluge Odyſſeus aber zog jeden Getödteten, am Fuß ihn ergreifend, zurück, um den Roſſen eine Bahn zu ma¬ chen. Nun hieb Diomedes auch den Dreizehnten nieder, und dieß war der König Rheſus, der eben in einem ſchweren Traume ſtöhnte, den ihm die Götter geſendet hatten. Inzwiſchen hatte Odyſſeus die Roſſe vom Wagen abgelöſt, mit Riemen verbunden, und, indem er ſich ſeines Bogens anſtatt der Geißel bediente, ſie aus dem Haufen hinweggetrieben. Dann gab er ſeinem Genoſſen ein Zei¬ chen durch leiſes Pfeifen: dieſer beſann ſich, ob er den

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/192>, abgerufen am 29.03.2024.