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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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den Wagen und die Rosse des Achilles zu erhalten, es
über sich nahm, das feindliche Kriegsheer zu durchwan¬
dern, bis er an Agamemnons Feldherrnschiff käme, um
dort den Fürstenrath der Danaer zu belauschen. Er hängte
eilend seinen Bogen um die Schulter, hüllte sich in ein
graues zottiges Wolfsfell, setzte einen Otterhelm auf das
Haupt, faßte den Wurfspieß, und ging mit Begier seinen
Weg. Dieser aber führte ihn ganz nahe an den auf
gleichem Gange begriffenen Griechenhelden vorüber. Odys¬
seus merkte den Tritt des Herannahenden und flüsterte
seinem Gesellen zu: "Diomedes, dort kommt ein Mann
aus dem trojanischen Lager herangewandelt; entweder es
ist ein Kundschafter, oder er will die Leichname auf dem
Schlachtfelde berauben; lassen wir ihn ein wenig vorüber¬
gehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder
erhaschen, oder nach den Schiffen treiben." Nun schmieg¬
ten sich beide, abseits von dem Wege, unter die Todten,
und Dolon lief sorglos vorüber. Als er einen Bogen¬
schuß entfernt war, hörte er das Geräusch der Helden
und stand stille, denn er vermuthete, daß Hektor ihn durch
befreundete Boten zurückrufen lasse; bald aber waren die
Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und nun
erkannte er sie als Feinde. Nun regte er seine schnellen
Kniee und flog dahin, wie ein Hund, der einen Hasen ver¬
folgt. "Steh, oder ich werfe meine Lanze nach dir,"
donnerte Diomedes, und entsandte seinen Speer, jedoch
mit Vorsatz fehlend, so daß das Erz über die Schulter
des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon stand,
starr und bleich vor Schrecken, sein Kinn bebte und die
Zähne klapperten ihm. "Fahet mich lebendig," rief er
unter Thränen, als die herankeuchenden Helden ihn mit

den Wagen und die Roſſe des Achilles zu erhalten, es
über ſich nahm, das feindliche Kriegsheer zu durchwan¬
dern, bis er an Agamemnons Feldherrnſchiff käme, um
dort den Fürſtenrath der Danaer zu belauſchen. Er hängte
eilend ſeinen Bogen um die Schulter, hüllte ſich in ein
graues zottiges Wolfsfell, ſetzte einen Otterhelm auf das
Haupt, faßte den Wurfſpieß, und ging mit Begier ſeinen
Weg. Dieſer aber führte ihn ganz nahe an den auf
gleichem Gange begriffenen Griechenhelden vorüber. Odyſ¬
ſeus merkte den Tritt des Herannahenden und flüſterte
ſeinem Geſellen zu: „Diomedes, dort kommt ein Mann
aus dem trojaniſchen Lager herangewandelt; entweder es
iſt ein Kundſchafter, oder er will die Leichname auf dem
Schlachtfelde berauben; laſſen wir ihn ein wenig vorüber¬
gehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder
erhaſchen, oder nach den Schiffen treiben.“ Nun ſchmieg¬
ten ſich beide, abſeits von dem Wege, unter die Todten,
und Dolon lief ſorglos vorüber. Als er einen Bogen¬
ſchuß entfernt war, hörte er das Geräuſch der Helden
und ſtand ſtille, denn er vermuthete, daß Hektor ihn durch
befreundete Boten zurückrufen laſſe; bald aber waren die
Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und nun
erkannte er ſie als Feinde. Nun regte er ſeine ſchnellen
Kniee und flog dahin, wie ein Hund, der einen Haſen ver¬
folgt. „Steh, oder ich werfe meine Lanze nach dir,“
donnerte Diomedes, und entſandte ſeinen Speer, jedoch
mit Vorſatz fehlend, ſo daß das Erz über die Schulter
des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon ſtand,
ſtarr und bleich vor Schrecken, ſein Kinn bebte und die
Zähne klapperten ihm. „Fahet mich lebendig,“ rief er
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[168/0190] den Wagen und die Roſſe des Achilles zu erhalten, es über ſich nahm, das feindliche Kriegsheer zu durchwan¬ dern, bis er an Agamemnons Feldherrnſchiff käme, um dort den Fürſtenrath der Danaer zu belauſchen. Er hängte eilend ſeinen Bogen um die Schulter, hüllte ſich in ein graues zottiges Wolfsfell, ſetzte einen Otterhelm auf das Haupt, faßte den Wurfſpieß, und ging mit Begier ſeinen Weg. Dieſer aber führte ihn ganz nahe an den auf gleichem Gange begriffenen Griechenhelden vorüber. Odyſ¬ ſeus merkte den Tritt des Herannahenden und flüſterte ſeinem Geſellen zu: „Diomedes, dort kommt ein Mann aus dem trojaniſchen Lager herangewandelt; entweder es iſt ein Kundſchafter, oder er will die Leichname auf dem Schlachtfelde berauben; laſſen wir ihn ein wenig vorüber¬ gehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder erhaſchen, oder nach den Schiffen treiben.“ Nun ſchmieg¬ ten ſich beide, abſeits von dem Wege, unter die Todten, und Dolon lief ſorglos vorüber. Als er einen Bogen¬ ſchuß entfernt war, hörte er das Geräuſch der Helden und ſtand ſtille, denn er vermuthete, daß Hektor ihn durch befreundete Boten zurückrufen laſſe; bald aber waren die Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und nun erkannte er ſie als Feinde. Nun regte er ſeine ſchnellen Kniee und flog dahin, wie ein Hund, der einen Haſen ver¬ folgt. „Steh, oder ich werfe meine Lanze nach dir,“ donnerte Diomedes, und entſandte ſeinen Speer, jedoch mit Vorſatz fehlend, ſo daß das Erz über die Schulter des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon ſtand, ſtarr und bleich vor Schrecken, ſein Kinn bebte und die Zähne klapperten ihm. „Fahet mich lebendig,“ rief er unter Thränen, als die herankeuchenden Helden ihn mit

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/190>, abgerufen am 28.03.2024.