Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

den sie zur Linken der Schlacht, Wagen und Rosse in
Nacht gehüllt, sitzen fand. "O Bruder," rief sie flehend,
"schaff' mich weg, gib mir die Rosse, daß ich zum Olymp
entkomme; mich schmerzt meine Wunde; Diomedes, der
Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre im Stande,
selbst mit unserm Vater Jupiter zu kämpfen." Mars über¬
ließ ihr den Wagen, und Venus, auf der Höhe des
Olymps angekommen, warf sich weinend in die Arme
ihrer Mutter Dione und wurde von ihr unter schmeicheln¬
den Trostworten vor den Göttervater geleitet, der sie
lächelnd empfing und ihr entgegen rief: "Drum wurden
dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes
Töchterchen, ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten
den Kriegsgott besorgen!" Ihre Schwester Pallas und
Juno aber sahen sie spöttisch von der Seite an, und
sprachen stichelnd: "Was wird es seyn? wahrscheinlich
hat die schöne falsche Griechin unsere Schwester nach
Troja gelockt, da wird sie Helena's Gewand gestreichelt
und sich mit einer Spange geritzt haben!"

Drunten auf dem Schlachtfeld hatte sich Diomedes
auf den liegenden Aeneas geworfen, und holte dreimal
aus, ihm den Todesstreich zu versetzen; aber dreimal
hielt der zornige Gott Apollo, der nach der Schwester
Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und
als jener das viertemal anstürmte, drohte er ihm mit
schrecklicher Stimme: "Sterblicher, wage nicht mit den
Göttern dich zu messen!" Scheu und mit zauderndem
Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Aeneas
aus dem Schlachtgewühl in seinen Tempel nach Troja,
wo Latona, seine Mutter, und Diana, seine Schwester,
ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der

den ſie zur Linken der Schlacht, Wagen und Roſſe in
Nacht gehüllt, ſitzen fand. „O Bruder,“ rief ſie flehend,
„ſchaff' mich weg, gib mir die Roſſe, daß ich zum Olymp
entkomme; mich ſchmerzt meine Wunde; Diomedes, der
Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre im Stande,
ſelbſt mit unſerm Vater Jupiter zu kämpfen.“ Mars über¬
ließ ihr den Wagen, und Venus, auf der Höhe des
Olymps angekommen, warf ſich weinend in die Arme
ihrer Mutter Dione und wurde von ihr unter ſchmeicheln¬
den Troſtworten vor den Göttervater geleitet, der ſie
lächelnd empfing und ihr entgegen rief: „Drum wurden
dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes
Töchterchen, ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten
den Kriegsgott beſorgen!“ Ihre Schweſter Pallas und
Juno aber ſahen ſie ſpöttiſch von der Seite an, und
ſprachen ſtichelnd: „Was wird es ſeyn? wahrſcheinlich
hat die ſchöne falſche Griechin unſere Schweſter nach
Troja gelockt, da wird ſie Helena's Gewand geſtreichelt
und ſich mit einer Spange geritzt haben!“

Drunten auf dem Schlachtfeld hatte ſich Diomedes
auf den liegenden Aeneas geworfen, und holte dreimal
aus, ihm den Todesſtreich zu verſetzen; aber dreimal
hielt der zornige Gott Apollo, der nach der Schweſter
Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und
als jener das viertemal anſtürmte, drohte er ihm mit
ſchrecklicher Stimme: „Sterblicher, wage nicht mit den
Göttern dich zu meſſen!“ Scheu und mit zauderndem
Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Aeneas
aus dem Schlachtgewühl in ſeinen Tempel nach Troja,
wo Latona, ſeine Mutter, und Diana, ſeine Schweſter,
ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0147" n="125"/>
den &#x017F;ie zur Linken der Schlacht, Wagen und Ro&#x017F;&#x017F;e in<lb/>
Nacht gehüllt, &#x017F;itzen fand. &#x201E;O Bruder,&#x201C; rief &#x017F;ie flehend,<lb/>
&#x201E;&#x017F;chaff' mich weg, gib mir die Ro&#x017F;&#x017F;e, daß ich zum Olymp<lb/>
entkomme; mich &#x017F;chmerzt meine Wunde; Diomedes, der<lb/>
Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre im Stande,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t mit un&#x017F;erm Vater Jupiter zu kämpfen.&#x201C; Mars über¬<lb/>
ließ ihr den Wagen, und Venus, auf der Höhe des<lb/>
Olymps angekommen, warf &#x017F;ich weinend in die Arme<lb/>
ihrer Mutter Dione und wurde von ihr unter &#x017F;chmeicheln¬<lb/>
den Tro&#x017F;tworten vor den Göttervater geleitet, der &#x017F;ie<lb/>
lächelnd empfing und ihr entgegen rief: &#x201E;Drum wurden<lb/>
dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes<lb/>
Töchterchen, ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten<lb/>
den Kriegsgott be&#x017F;orgen!&#x201C; Ihre Schwe&#x017F;ter Pallas und<lb/>
Juno aber &#x017F;ahen &#x017F;ie &#x017F;pötti&#x017F;ch von der Seite an, und<lb/>
&#x017F;prachen &#x017F;tichelnd: &#x201E;Was wird es &#x017F;eyn? wahr&#x017F;cheinlich<lb/>
hat die &#x017F;chöne fal&#x017F;che Griechin un&#x017F;ere Schwe&#x017F;ter nach<lb/>
Troja gelockt, da wird &#x017F;ie Helena's Gewand ge&#x017F;treichelt<lb/>
und &#x017F;ich mit einer Spange geritzt haben!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Drunten auf dem Schlachtfeld hatte &#x017F;ich Diomedes<lb/>
auf den liegenden Aeneas geworfen, und holte dreimal<lb/>
aus, ihm den Todes&#x017F;treich zu ver&#x017F;etzen; aber dreimal<lb/>
hielt der zornige Gott Apollo, der nach der Schwe&#x017F;ter<lb/>
Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und<lb/>
als jener das viertemal an&#x017F;türmte, drohte er ihm mit<lb/>
&#x017F;chrecklicher Stimme: &#x201E;Sterblicher, wage nicht mit den<lb/>
Göttern dich zu me&#x017F;&#x017F;en!&#x201C; Scheu und mit zauderndem<lb/>
Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Aeneas<lb/>
aus dem Schlachtgewühl in &#x017F;einen Tempel nach Troja,<lb/>
wo Latona, &#x017F;eine Mutter, und Diana, &#x017F;eine Schwe&#x017F;ter,<lb/>
ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0147] den ſie zur Linken der Schlacht, Wagen und Roſſe in Nacht gehüllt, ſitzen fand. „O Bruder,“ rief ſie flehend, „ſchaff' mich weg, gib mir die Roſſe, daß ich zum Olymp entkomme; mich ſchmerzt meine Wunde; Diomedes, der Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre im Stande, ſelbſt mit unſerm Vater Jupiter zu kämpfen.“ Mars über¬ ließ ihr den Wagen, und Venus, auf der Höhe des Olymps angekommen, warf ſich weinend in die Arme ihrer Mutter Dione und wurde von ihr unter ſchmeicheln¬ den Troſtworten vor den Göttervater geleitet, der ſie lächelnd empfing und ihr entgegen rief: „Drum wurden dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes Töchterchen, ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten den Kriegsgott beſorgen!“ Ihre Schweſter Pallas und Juno aber ſahen ſie ſpöttiſch von der Seite an, und ſprachen ſtichelnd: „Was wird es ſeyn? wahrſcheinlich hat die ſchöne falſche Griechin unſere Schweſter nach Troja gelockt, da wird ſie Helena's Gewand geſtreichelt und ſich mit einer Spange geritzt haben!“ Drunten auf dem Schlachtfeld hatte ſich Diomedes auf den liegenden Aeneas geworfen, und holte dreimal aus, ihm den Todesſtreich zu verſetzen; aber dreimal hielt der zornige Gott Apollo, der nach der Schweſter Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und als jener das viertemal anſtürmte, drohte er ihm mit ſchrecklicher Stimme: „Sterblicher, wage nicht mit den Göttern dich zu meſſen!“ Scheu und mit zauderndem Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Aeneas aus dem Schlachtgewühl in ſeinen Tempel nach Troja, wo Latona, ſeine Mutter, und Diana, ſeine Schweſter, ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/147
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/147>, abgerufen am 28.03.2024.