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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Priamus aus, den Helden sich betrachtend, "Gesegneter,
dessen Scepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich
stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines gro¬
ßen Heeres, als wir die Horde der Amazonen von Phry¬
gien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß, wie
das deinige!" Dann fragte der Greis von Neuem:
"Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen, er ragt
nicht so hoch empor, wie der Atride, aber seine Brust ist
breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt
zu Boden gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der
Männer, wie ein Widder die Schaafe." "Das ist der
Sohn des Laertes," antwortete Helena, "der schlaue
Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimath."
Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch:
"Du hast Recht, Fürstin," sagte er, "ihn und Menelaus
kenne ich gut; habe ich sie doch in meinem Haus als Ge¬
sandte einst beherbergt. Im Stehen überragte Menelaus
den Helden Odysseus; wenn sie sich aber beide gesetzt,
erschien Odysseus als der Herrlichere. Auch redete Mene¬
laus wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte.
Odysseus aber, wenn er reden wollte, stand da, die Augen
zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der Hand,
anzusehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, ist er
tückisch oder dumm. Sandte er aber einmal die gewaltige
Stimme aus der Brust, dann drängten sich seine Worte
wie Schneeflocken im Winter, und kein Sterblicher konnte
sich mit Odysseus an Beredtsamkeit messen."

Priamus hatte sich indessen noch weiter umgeschaut.
"Wer ist denn der Riese dort," rief er, "der so gar groß
und gewaltig über alles Volk hervorragt?" "Das ist der
Held Ajax," antwortete Helena, "die Stütze der Achiver;

Priamus aus, den Helden ſich betrachtend, „Geſegneter,
deſſen Scepter zahlloſe Griechen gehorchen! Auch ich
ſtand einſt in männlicher Jugend an der Spitze eines gro¬
ßen Heeres, als wir die Horde der Amazonen von Phry¬
gien abwehrten; doch war mein Heer nicht ſo groß, wie
das deinige!“ Dann fragte der Greis von Neuem:
„Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen, er ragt
nicht ſo hoch empor, wie der Atride, aber ſeine Bruſt iſt
breiter, ſeine Schultern ſind mächtiger; ſeine Wehr liegt
zu Boden geſtreckt; er ſelbſt umwandelt die Reihen der
Männer, wie ein Widder die Schaafe.“ „Das iſt der
Sohn des Laertes,“ antwortete Helena, „der ſchlaue
Odyſſeus; Ithaka, die felſige Inſel, iſt ſeine Heimath.“
Jetzt miſchte ſich auch der Greis Antenor ins Geſpräch:
„Du haſt Recht, Fürſtin,“ ſagte er, „ihn und Menelaus
kenne ich gut; habe ich ſie doch in meinem Haus als Ge¬
ſandte einſt beherbergt. Im Stehen überragte Menelaus
den Helden Odyſſeus; wenn ſie ſich aber beide geſetzt,
erſchien Odyſſeus als der Herrlichere. Auch redete Mene¬
laus wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte.
Odyſſeus aber, wenn er reden wollte, ſtand da, die Augen
zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der Hand,
anzuſehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, iſt er
tückiſch oder dumm. Sandte er aber einmal die gewaltige
Stimme aus der Bruſt, dann drängten ſich ſeine Worte
wie Schneeflocken im Winter, und kein Sterblicher konnte
ſich mit Odyſſeus an Beredtſamkeit meſſen.“

Priamus hatte ſich indeſſen noch weiter umgeſchaut.
„Wer iſt denn der Rieſe dort,“ rief er, „der ſo gar groß
und gewaltig über alles Volk hervorragt?“ „Das iſt der
Held Ajax,“ antwortete Helena, „die Stütze der Achiver;

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[105/0127] Priamus aus, den Helden ſich betrachtend, „Geſegneter, deſſen Scepter zahlloſe Griechen gehorchen! Auch ich ſtand einſt in männlicher Jugend an der Spitze eines gro¬ ßen Heeres, als wir die Horde der Amazonen von Phry¬ gien abwehrten; doch war mein Heer nicht ſo groß, wie das deinige!“ Dann fragte der Greis von Neuem: „Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen, er ragt nicht ſo hoch empor, wie der Atride, aber ſeine Bruſt iſt breiter, ſeine Schultern ſind mächtiger; ſeine Wehr liegt zu Boden geſtreckt; er ſelbſt umwandelt die Reihen der Männer, wie ein Widder die Schaafe.“ „Das iſt der Sohn des Laertes,“ antwortete Helena, „der ſchlaue Odyſſeus; Ithaka, die felſige Inſel, iſt ſeine Heimath.“ Jetzt miſchte ſich auch der Greis Antenor ins Geſpräch: „Du haſt Recht, Fürſtin,“ ſagte er, „ihn und Menelaus kenne ich gut; habe ich ſie doch in meinem Haus als Ge¬ ſandte einſt beherbergt. Im Stehen überragte Menelaus den Helden Odyſſeus; wenn ſie ſich aber beide geſetzt, erſchien Odyſſeus als der Herrlichere. Auch redete Mene¬ laus wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte. Odyſſeus aber, wenn er reden wollte, ſtand da, die Augen zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der Hand, anzuſehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, iſt er tückiſch oder dumm. Sandte er aber einmal die gewaltige Stimme aus der Bruſt, dann drängten ſich ſeine Worte wie Schneeflocken im Winter, und kein Sterblicher konnte ſich mit Odyſſeus an Beredtſamkeit meſſen.“ Priamus hatte ſich indeſſen noch weiter umgeſchaut. „Wer iſt denn der Rieſe dort,“ rief er, „der ſo gar groß und gewaltig über alles Volk hervorragt?“ „Das iſt der Held Ajax,“ antwortete Helena, „die Stütze der Achiver;

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/127>, abgerufen am 22.11.2024.