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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Polydorus, ohne Lösegeld und Tausch, dem Priamus aus¬
geliefert hätten. Auch dieser Rath wurde als treulos ver¬
worfen, und da Antimachus nicht aufhörte, selbst öffentlich
in der Versammlung die Helden zu schmähen, so wurde
er von seinen Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mi߬
billigung seines Betragens und seiner Grundsätze beweisen
wollten, mit Schimpf aus der Versammlung gestoßen.

Erbittert begab sich Antimachus auf die Burg und
unterrichtete den König von der Ankunft der griechischen
Gesandtschaft. Nun erhub sich im Rathe des Königes
und seiner Söhne selbst eine lange zwiespältige Berathung,
zu welcher auch ein Aeltester, der edle Panthous, der das
volle Vertrauen des alten Königes genoß, gezogen wurde.
Dieser wandte sich an den tapfersten, edelsten und tugend¬
haftesten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der
flehentlichen Bitte, dem Rath aller bessern Trojaner
nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges
auszuliefern. "Hat doch," sprach er, "Paris so viele Jahre
lang Zeit gehabt, sich seines ungerechten Raubes zu
erfreuen und seine Lust zu büßen! Jetzt sind alle unsre
verbündeten Städte zerstört und ihr Untergang weissagt
uns unser eigenes Schicksal; dazu haben die Griechen
deinen kleinen Bruder Polydorus in ihrer Gewalt, und
wir wissen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir
den Griechen Helena nicht ausliefern!"

Hektor wurde schamroth und bis zu Thränen betrübt,
als er der Unthat seines Bruders Paris gedachte. Den¬
noch sprach er sich im Rathe des Königes nicht für die
Auslieferung der Fürstin aus. "Sie ist," antwortete er
dem Panthous, "einmal die Schutzflehende unsres Hauses.
Als solche haben wir sie aufgenommen, sonst hätten wir

Schwab, das klass. Alterthum. II. 6

Polydorus, ohne Löſegeld und Tauſch, dem Priamus aus¬
geliefert hätten. Auch dieſer Rath wurde als treulos ver¬
worfen, und da Antimachus nicht aufhörte, ſelbſt öffentlich
in der Verſammlung die Helden zu ſchmähen, ſo wurde
er von ſeinen Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mi߬
billigung ſeines Betragens und ſeiner Grundſätze beweiſen
wollten, mit Schimpf aus der Verſammlung geſtoßen.

Erbittert begab ſich Antimachus auf die Burg und
unterrichtete den König von der Ankunft der griechiſchen
Geſandtſchaft. Nun erhub ſich im Rathe des Königes
und ſeiner Söhne ſelbſt eine lange zwieſpältige Berathung,
zu welcher auch ein Aelteſter, der edle Panthous, der das
volle Vertrauen des alten Königes genoß, gezogen wurde.
Dieſer wandte ſich an den tapferſten, edelſten und tugend¬
hafteſten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der
flehentlichen Bitte, dem Rath aller beſſern Trojaner
nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges
auszuliefern. „Hat doch,“ ſprach er, „Paris ſo viele Jahre
lang Zeit gehabt, ſich ſeines ungerechten Raubes zu
erfreuen und ſeine Luſt zu büßen! Jetzt ſind alle unſre
verbündeten Städte zerſtört und ihr Untergang weiſſagt
uns unſer eigenes Schickſal; dazu haben die Griechen
deinen kleinen Bruder Polydorus in ihrer Gewalt, und
wir wiſſen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir
den Griechen Helena nicht ausliefern!“

Hektor wurde ſchamroth und bis zu Thränen betrübt,
als er der Unthat ſeines Bruders Paris gedachte. Den¬
noch ſprach er ſich im Rathe des Königes nicht für die
Auslieferung der Fürſtin aus. „Sie iſt,“ antwortete er
dem Panthous, „einmal die Schutzflehende unſres Hauſes.
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Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 6
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[81/0103] Polydorus, ohne Löſegeld und Tauſch, dem Priamus aus¬ geliefert hätten. Auch dieſer Rath wurde als treulos ver¬ worfen, und da Antimachus nicht aufhörte, ſelbſt öffentlich in der Verſammlung die Helden zu ſchmähen, ſo wurde er von ſeinen Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mi߬ billigung ſeines Betragens und ſeiner Grundſätze beweiſen wollten, mit Schimpf aus der Verſammlung geſtoßen. Erbittert begab ſich Antimachus auf die Burg und unterrichtete den König von der Ankunft der griechiſchen Geſandtſchaft. Nun erhub ſich im Rathe des Königes und ſeiner Söhne ſelbſt eine lange zwieſpältige Berathung, zu welcher auch ein Aelteſter, der edle Panthous, der das volle Vertrauen des alten Königes genoß, gezogen wurde. Dieſer wandte ſich an den tapferſten, edelſten und tugend¬ hafteſten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der flehentlichen Bitte, dem Rath aller beſſern Trojaner nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges auszuliefern. „Hat doch,“ ſprach er, „Paris ſo viele Jahre lang Zeit gehabt, ſich ſeines ungerechten Raubes zu erfreuen und ſeine Luſt zu büßen! Jetzt ſind alle unſre verbündeten Städte zerſtört und ihr Untergang weiſſagt uns unſer eigenes Schickſal; dazu haben die Griechen deinen kleinen Bruder Polydorus in ihrer Gewalt, und wir wiſſen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir den Griechen Helena nicht ausliefern!“ Hektor wurde ſchamroth und bis zu Thränen betrübt, als er der Unthat ſeines Bruders Paris gedachte. Den¬ noch ſprach er ſich im Rathe des Königes nicht für die Auslieferung der Fürſtin aus. „Sie iſt,“ antwortete er dem Panthous, „einmal die Schutzflehende unſres Hauſes. Als ſolche haben wir ſie aufgenommen, ſonſt hätten wir Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 6

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/103>, abgerufen am 28.03.2024.