Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

sie von der Schwelle des Königspallastes zurückweisen müs¬
sen. Statt dieß zu thun, haben wir ihr und dem Paris
ein prächtiges Haus gebaut, und sie haben darin in Herr¬
lichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr Alle
habt dazu geschwiegen und habt doch diesen Krieg kommen
sehen! Warum sollen wir sie jetzt vertreiben?" -- "Ich
habe nicht geschwiegen," erwiederte Panthous, "mein Ge¬
wissen ist ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines
Vaters mitgetheilt und euch gewarnt; ich warne euch zum
zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt
und den König mit euch getreulich vertheidigen helfen,
auch wenn ihr meinen heilsamen Rath nicht befolget!"
Mit solchen Worten verließ er die Versammlung der Kö¬
nigssöhne.

In dieser wurde zuletzt auf Hektor's Vorschlag beschlos¬
sen, zwar die Fürstin Helena nicht auszuliefern, wohl aber
Genugthuung und Ersatz für Alles zu leisten, was mit
ihr geraubt worden sey. An ihrer Statt sollte dem Me¬
nelaus eine der Töchter des Königes Priamus selbst, die
weise Kassandra oder die in Jugendblüthe heranreifende
Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten
werden. Als die griechischen Gesandten, vor den König
und seine Söhne geführt, diesen Vorschlag vernahmen,
ergrimmte Menelaus und sprach: "Wahrhaftig, es ist
weit mit mir gekommen, wenn ich, so viele Jahre des
Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den
Feinden mir eine Gattin auslesen lassen muß! Behaltet
eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Ju¬
gend zurück!" Dagegen erhob sich der Eidam des Königes,
der Gemahl Kreusa's, der Held Aeneas, und rief dem
Fürsten Menelaus, der die letzten Worte mit verächtlichem

ſie von der Schwelle des Königspallaſtes zurückweiſen müſ¬
ſen. Statt dieß zu thun, haben wir ihr und dem Paris
ein prächtiges Haus gebaut, und ſie haben darin in Herr¬
lichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr Alle
habt dazu geſchwiegen und habt doch dieſen Krieg kommen
ſehen! Warum ſollen wir ſie jetzt vertreiben?“ — „Ich
habe nicht geſchwiegen,“ erwiederte Panthous, „mein Ge¬
wiſſen iſt ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines
Vaters mitgetheilt und euch gewarnt; ich warne euch zum
zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt
und den König mit euch getreulich vertheidigen helfen,
auch wenn ihr meinen heilſamen Rath nicht befolget!“
Mit ſolchen Worten verließ er die Verſammlung der Kö¬
nigsſöhne.

In dieſer wurde zuletzt auf Hektor's Vorſchlag beſchloſ¬
ſen, zwar die Fürſtin Helena nicht auszuliefern, wohl aber
Genugthuung und Erſatz für Alles zu leiſten, was mit
ihr geraubt worden ſey. An ihrer Statt ſollte dem Me¬
nelaus eine der Töchter des Königes Priamus ſelbſt, die
weiſe Kaſſandra oder die in Jugendblüthe heranreifende
Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten
werden. Als die griechiſchen Geſandten, vor den König
und ſeine Söhne geführt, dieſen Vorſchlag vernahmen,
ergrimmte Menelaus und ſprach: „Wahrhaftig, es iſt
weit mit mir gekommen, wenn ich, ſo viele Jahre des
Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den
Feinden mir eine Gattin ausleſen laſſen muß! Behaltet
eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Ju¬
gend zurück!“ Dagegen erhob ſich der Eidam des Königes,
der Gemahl Kreuſa's, der Held Aeneas, und rief dem
Fürſten Menelaus, der die letzten Worte mit verächtlichem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0104" n="82"/>
&#x017F;ie von der Schwelle des Königspalla&#x017F;tes zurückwei&#x017F;en mü&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en. Statt dieß zu thun, haben wir ihr und dem Paris<lb/>
ein prächtiges Haus gebaut, und &#x017F;ie haben darin in Herr¬<lb/>
lichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr Alle<lb/>
habt dazu ge&#x017F;chwiegen und habt doch die&#x017F;en Krieg kommen<lb/>
&#x017F;ehen! Warum &#x017F;ollen wir &#x017F;ie jetzt vertreiben?&#x201C; &#x2014; &#x201E;Ich<lb/>
habe nicht ge&#x017F;chwiegen,&#x201C; erwiederte Panthous, &#x201E;mein Ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines<lb/>
Vaters mitgetheilt und euch gewarnt; ich warne euch zum<lb/>
zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt<lb/>
und den König mit euch getreulich vertheidigen helfen,<lb/>
auch wenn ihr meinen heil&#x017F;amen Rath nicht befolget!&#x201C;<lb/>
Mit &#x017F;olchen Worten verließ er die Ver&#x017F;ammlung der Kö¬<lb/>
nigs&#x017F;öhne.</p><lb/>
          <p>In die&#x017F;er wurde zuletzt auf Hektor's Vor&#x017F;chlag be&#x017F;chlo&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en, zwar die Für&#x017F;tin Helena nicht auszuliefern, wohl aber<lb/>
Genugthuung und Er&#x017F;atz für Alles zu lei&#x017F;ten, was mit<lb/>
ihr geraubt worden &#x017F;ey. An ihrer Statt &#x017F;ollte dem Me¬<lb/>
nelaus eine der Töchter des Königes Priamus &#x017F;elb&#x017F;t, die<lb/>
wei&#x017F;e Ka&#x017F;&#x017F;andra oder die in Jugendblüthe heranreifende<lb/>
Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten<lb/>
werden. Als die griechi&#x017F;chen Ge&#x017F;andten, vor den König<lb/>
und &#x017F;eine Söhne geführt, die&#x017F;en Vor&#x017F;chlag vernahmen,<lb/>
ergrimmte Menelaus und &#x017F;prach: &#x201E;Wahrhaftig, es i&#x017F;t<lb/>
weit mit mir gekommen, wenn ich, &#x017F;o viele Jahre des<lb/>
Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den<lb/>
Feinden mir eine Gattin ausle&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en muß! Behaltet<lb/>
eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Ju¬<lb/>
gend zurück!&#x201C; Dagegen erhob &#x017F;ich der Eidam des Königes,<lb/>
der Gemahl Kreu&#x017F;a's, der Held Aeneas, und rief dem<lb/>
Für&#x017F;ten Menelaus, der die letzten Worte mit verächtlichem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0104] ſie von der Schwelle des Königspallaſtes zurückweiſen müſ¬ ſen. Statt dieß zu thun, haben wir ihr und dem Paris ein prächtiges Haus gebaut, und ſie haben darin in Herr¬ lichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr Alle habt dazu geſchwiegen und habt doch dieſen Krieg kommen ſehen! Warum ſollen wir ſie jetzt vertreiben?“ — „Ich habe nicht geſchwiegen,“ erwiederte Panthous, „mein Ge¬ wiſſen iſt ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines Vaters mitgetheilt und euch gewarnt; ich warne euch zum zweitenmal. Komme was da will, ich werde die Stadt und den König mit euch getreulich vertheidigen helfen, auch wenn ihr meinen heilſamen Rath nicht befolget!“ Mit ſolchen Worten verließ er die Verſammlung der Kö¬ nigsſöhne. In dieſer wurde zuletzt auf Hektor's Vorſchlag beſchloſ¬ ſen, zwar die Fürſtin Helena nicht auszuliefern, wohl aber Genugthuung und Erſatz für Alles zu leiſten, was mit ihr geraubt worden ſey. An ihrer Statt ſollte dem Me¬ nelaus eine der Töchter des Königes Priamus ſelbſt, die weiſe Kaſſandra oder die in Jugendblüthe heranreifende Polyxena, mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten werden. Als die griechiſchen Geſandten, vor den König und ſeine Söhne geführt, dieſen Vorſchlag vernahmen, ergrimmte Menelaus und ſprach: „Wahrhaftig, es iſt weit mit mir gekommen, wenn ich, ſo viele Jahre des Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den Feinden mir eine Gattin ausleſen laſſen muß! Behaltet eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Ju¬ gend zurück!“ Dagegen erhob ſich der Eidam des Königes, der Gemahl Kreuſa's, der Held Aeneas, und rief dem Fürſten Menelaus, der die letzten Worte mit verächtlichem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/104
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/104>, abgerufen am 23.11.2024.