sie bat sich das schöne Thier von ihrem Gemahl zum Geschenke aus. Was sollte der betrogene Betrüger ma¬ chen? Giebt er die Kuh her, so wird er seiner Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für un¬ entdeckt hielt, seiner Gemahlin. Juno knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen Thier ein Band um den Hals, und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der Thiergestalt schlug, im Triumphe da¬ von. Doch machte der Gattin dieser Diebstahl selbst Angst und sie ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den Argus, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien. Denn Argus hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß und der Ruhe ergab, wäh¬ rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Jupiter die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tages über auf einer fetten Trist weiden; Argus aber stand in der Nähe und wo er sich immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er sich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie ein, und belastete den Hals der un¬ glückseligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub
ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬ chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬ entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬ von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus, den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬ rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten. Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬ glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0048"n="22"/>ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum<lb/>
Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬<lb/>
chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten<lb/>
verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den<lb/>
Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann<lb/>
raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn,<lb/>
für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und<lb/>ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬<lb/>
entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar<lb/>
beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um<lb/>
den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes<lb/>
Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬<lb/>
von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und<lb/>ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten<lb/>
Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus,<lb/>
den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu<lb/>
dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus<lb/>
hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar<lb/>
abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬<lb/>
rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie<lb/>
funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten.<lb/>
Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr<lb/>
Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen<lb/>
könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh,<lb/>
des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus<lb/>
aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen<lb/>
mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er<lb/>ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte<lb/>
er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen<lb/>
war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬<lb/>
glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[22/0048]
ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum
Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬
chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten
verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den
Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann
raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn,
für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und
ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬
entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar
beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um
den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes
Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬
von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und
ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten
Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus,
den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu
dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus
hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar
abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬
rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie
funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten.
Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr
Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen
könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh,
des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus
aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen
mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er
ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte
er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen
war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬
glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/48>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.